"Schweigeminute": Israelisches Theater in Deutschland
In ihrem gemeinsamen Theaterstück "Schweigeminute", das in Deutschland und Israel großes Interesse weckt, thematisieren die israelischen Wahlberliner Hila Golan (26) und Ariel Nil Levy (33) ihre eigene Migrationsgeschichte. Zugleich karikieren sie israelische nationale Rituale wie die Schweigeminute: Dreimal im Jahr heulen die Sirenen, und der Alltag kommt zum Stillstand – ein Mal am Holocaust-Gedenktag und zwei Mal am Trauertag für die gefallenen Soldaten.
25.08.2011
Die Fragen stellte Igal Avidan

Auf der Bühne spielt Ariel Nil Levy, dessen Frau Hila Golan Regie führt, zusammen mit Niva Dloomy, der israelischen Sängerin Meytal Zur und der deutschen Regisseurin Anke Rauthmann. Sie kombinieren Slapstick mit persönlichen Geschichten und lesen Texte vor, die sich mit Deutschland und Israel auseinandersetzen.

Immer wieder unterbrechen Sie das hektische Geschehen auf der Bühne, passend zum Titel Ihres Theaterstücks. Warum setzten Sie sich ausgerechnet mit dem israelischen Ritual der Schweigeminute auseinander?

Hila Golan: Um diese in Israel heilige Zeremonie in Frage zu stellen, und weil die Schweigeminute auf der Bühne interessant ist. Wir kritisieren, dass auf diese Art die Israelis nicht über die sechs Millionen Toten oder die gefallenen Soldaten lernen sollen, sondern sich selbst als Opfer stilisieren. Sie sollen als Patrioten vorbereit werden, für ihren Staat zu kämpfen. Wir Israelis sind weit davon entfernt, die Palästinenser auch als Opfer zu betrachten, denn wir sind zu sehr mit uns selbst beschäftigt.

Ariel Levy: Ich möchte hoffen, dass wir auch die Palästinenser sehen könnten, aber wir sind sehr weit davon entfernt, wie das neue "Boykottgesetz" beweist. [Anm. d. Red.: Am 11. Juli erlaubte das Parlament Sanktionen gegen jeden, der zum Boykott Israels oder der besetzten Gebiete ausruft, zum Beispiel der Produkte aus den Siedlungen.]

Warum haben Sie eine Deutsche für diese inner-israelische Produktion engagiert?

Golan: Weil Anke Rauthmann 10 Jahre in Israel gelebt hat, Hebräisch spricht und viel über Israel aus deutscher Sicht zu sagen hat (sie erzählt im Stück über das Kompliment ihres Hebräisch-Lehrers: "Sie sehen gar nicht wie eine Nichtjüdin aus", I.A). Wir wollten eine Deutsche im Cast, weil wir in Berlin leben und überwiegend in deutschen Theatern spielen.

Einer der Höhepunkte des Stücks ist Ariels Hadern mit seiner Einbürgerung in Deutschland und der Rückgabe seines israelischen Reisepasses. Steckt eine wahre Geschichte dahinter?

Levy: Ja. Das war wirklich ein langer und schwerer Prozess, mit dem ich mich im Stück auseinandersetze. Einerseits fand ich es unpraktisch, alle sechs Monate meine Aufenthaltserlaubnis verlängern zu müssen. Andererseits fühlte ich mich seit meiner Jugend zu Deutschland hingezogen. Mein Großvater, der 1936 aus Litauen auswanderte, in Israel Mitarbeiter des Geheimdienstes wurde und 1961 in West-Deutschland eine Suche nach Joseph Mengele betrieb, unterstützte mich darin, meinen israelischen Pass abzugeben. Denn er kritisierte heftig den jüngsten Gaza-Krieg.

Golan: Ich würde auf meinen israelischen Pass nicht verzichten, weil ich Teil Israels bin, auch wenn ich nicht dazu gehören will.

Die Darsteller Anke Rauthmann, Ariel Nil Levy, Meytal Zur und Niva Dloomy (von links) im Stück "Schweigeminute".

Niva Dloomy spielt eine israelische Reiseführerin, die deutschen Gruppen Berlin durch die Augen der Israelis zeigt und ihnen sehr zugespitzt erklärt, warum Israelis kein Problem mehr hätten, deutschen Boden zu betreten: "Früher hielten wir euch alle für Nazis, jetzt werft ihr uns vor, uns wie Nazis zu verhalten". Am Checkpint Charlie, sagt sie, fühlten sich die Israelis wie zu Hause. Wofür steht diese Figur?

Levy: Sie ist ein Stereotyp israelischer Vorurteile und ist sehr patriotisch, obwohl sie in Berlin lebt und arbeitet. Sie würde Ariel zum Beispiel sagen, er solle niemals auf seinen israelischen Pass verzichten, weil Israel das beste Land der Welt sei. Ich bin hier schon solchen Menschen begegnet.

Was zieht so viele Israelis nach Berlin, wo sich vor allem junge Künstler niederlassen?

Levy: Die Kulturszene ist sehr progressiv und interessant. Diese Israelis haben die Illusion, dass sie hier mehr kreativen Raum finden. Aber sie wissen nicht, dass es hier zwar mehr offene Türen gibt, aber hinter jeder Tür noch mehr Künstler auf ihre Chance warten. Meine Oma stammt aus Tschernowitz, und sie sprach bei uns zu Hause Deutsch. Als Kind las ich sehr viel deutsche Literatur und Theaterstücke, Brecht zum Beispiel. Das führte mich 2008 nach Berlin, wo ich Ariel traf.

Sie spielen im Stück immer wieder das klassische israelische Lied der Dichterin Lea Goldberg "Aus den Liedern meines geliebten Landes", in dem sie ihr "armes, majestätisches Land" beweint. Warum ausgerechnet dieser Song?

Levy: Weil er die Schwierigkeiten mit Israel, die Liebe zu diesem Land und die Sehnsucht nach der Heimat vereint.

Golan: Weil diese Liebe zum Land hier nicht nationalistisch ist.

Welche Reaktionen bekommen Sie vom Publikum?

Golan: In Israel lacht man mehr, weil wir mehr Texte auf Hebräisch haben, zum Beispiel alle Monologe der Reiseführerin. Für das Publikum hier übersetzten wir sogar unser "heiliges" Gebet für die gefallenen Soldaten ins Deutsch.

Levy: Auch in Deutschland erlaubt man sich inzwischen zu lachen. Auf dem Theaterfestival in Akko, an dem wir dank der Förderung des Goethe-Instituts teilnahmen, wurden wir als bestes ausländisches Stück ausgezeichnet. Die Reise dorthin war aber nicht einfach, weil ich damals noch keinen deutschen Pass hatte, nur ein Reisedokument, mit dem ich in der viel längeren Warteschlange für Ausländer stand. Die israelischen Sicherheitsleute schauten mich sehr komisch an und waren überrascht, dass ich fließend Hebräisch sprach.

Sie haben vor kurzem in Berlin zivil geheiratet, was in Israel gar nicht möglich ist. Wir haben Sie das erlebt?

Levy: Es war sehr intim, nur wir beide und der Beamte im Standesamt – ohne Zeugen und ohne Rabbi.
Golan: Die wirkliche Hochzeit wird in Israel stattfinden, vielleicht mit einem reformierten Rabbiner.


Hila Golan (26) und Ariel Nil Levy (33) sind Israelis, leben in Berlin und haben mit "Schweigeminute" ihre eigene Migrationsgeschichte auf die Bühne gebracht. Das Stück wurde im Mai 2010 beim Diyalog-Festival im Ballhaus Naunynstr. in Berlin uraufgeführt und im September 2010 beim israelischen Off-Theater-Festival Acco mit dem 1. Preis ausgezeichnet.