Lilian Dann trägt ein kurzes weißes Kleid. Sie rollt das Faltblatt mit den Liedtexten zu einem Fernrohr und betrachtet das Ohr ihrer Oma, die neben ihr sitzt. Sie blickt nach vorne in die Mitte des weißen Zeltes. Dort steht Dekan Reinhard Zincke in seinem Talar inmitten einer Band vor einem provisorischen Altar mit weißen Rosen darauf. Er erzählt von Tauben, die eigentlich eine Plage sind. In der Geschichte der Arche Noah aber bringt die Taube Menschen und Tieren an Board des Schiffes die gute Nachricht der Rettung.
Die achtjährige Lilian blickt weiter durch das Zelt, das voll besetzt ist mit Familien, die an diesem Sonntag ihre Kinder am Waldsee taufen lassen wollen. Quer zum Wasser steht das rechteckige Zelt 100 Meter oberhalb des Langener Waldsees. Die offenen Zelttüren geben den Blick frei auf den See und den sandigen Weg, den Lilian gleich hinunterlaufen wird. Gemeinsam mit ihrem kleinen Bruder Julian, ihren Eltern, ihren Großeltern und ihrem Paten. Ihr Pate trägt einen Anzug, Krawatte und Lederschuhe. Und damit will er gleich mit ihr zusammen ins Wasser? Naja, wenn er meint.
Eine Taufe unter freiem Himmel
Schlagzeug, Gitarre und Keyboard setzen ein, drei Sänger singen: "Gott hält die Welt in seiner Hand". Die zusammengewürfelte Gemeinde steht auf, singt mit und hebt die Hände für die Pantomime zu diesem Lied. Lilian drückt ihrer Oma das Faltblatt in die Hand und springt auf die Bank. "Er hält auch dich und mich in seiner Hand", singt sie laut und zeigt dabei auf ihren Opa und dann sich selbst, ihr weißes Kleid wirbelt um ihre schmalen Beine.
Dann ist es soweit. Lilian Dann wird aufgerufen, sich auf den Weg zu machen. Diesen Weg, auf den sie sich seit ein paar Monaten vorbereitet hat, den sie selbst gewählt hat. So beschäftigt sie vorher mit ihrem Papierfernrohr war, so ruhig und konzentriert wirkt Lilian jetzt. Ihre Mutter und ihr Vater nehmen sie an die Hand. Sie haben ihr in den vergangenen Monaten versucht die Unterschiede zwischen katholisch und evangelisch zu erklären. Sind mit ihr in Gottesdienste gegangen und haben ihr alle Fragen beantwortet, die sie gestellt hat. "Und Lilian hat viele Fragen gestellt", sagt ihr Vater. Dann hat sich Lilian entschieden: Sie möchte evangelisch getauft werden. Und zufällig kam das Angebot der Gemeinde: Wie wäre eine Taufe unter freiem Himmel? Mit vielen anderen zusammen?
Jeweils sieben Familien gleichzeitig drängeln sich nun zwischen den Bierbänken aus dem Zelt heraus, strömen Richtung Wasser. Insgesamt 47 Kinder zwischen vier Monaten und 13 Jahren, sowie zwei Erwachsene, werden heute, an Taufbecken am Waldsee und im Waldsee selber, von sieben Pfarrerinnen und Pfarrern des Dekanats Dreieich getauft.
"Weniger Bindung zur Lokalgemeinde"
Der 100 Meter lange Weg hinunter zum Wasser ist abgegrenzt mit rot-weißem Absperrband und Kordeln, an denen weiße und lilafarbene Wimpel befestigt sind. Die Wimpel, bedruckt mit dem Facetten-Kreuz der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, wehen im Wind, der graue zerpflückte Himmel erstreckt sich weit über die Taufgesellschaft. Links und rechts des Weges blicken die Badegäste des Sees neugierig auf das Geschehen.
In den Jahren 2010 und 2011 hat sich das Dekanat Dreieich mit dem Thema "Taufe ist..." beschäftigt. Das große Fest am Waldsee beendet diesen zweijährigen Prozess, den die Kirchengemeinden in Neu-Isenburg, Dreieich, Langen und Egelsbach zusammen durchlebt haben. Einen Prozess, der den Gemeinden des Dekanats Raum für neue Impulse geben sollte. "Es ist wichtig, Begegnungsmomente zu schaffen", sagt Dekan Reinhard Zincke. Und zwar Begegnungsmomente zwischen Generationen, zwischen den Kerngemeinden und Menschen, die nicht regelmäßig in den Gottesdienst gehen oder sich in der Kirche engagieren. Dafür gab es beispielsweise eine Ausstellung zum Thema Taufe in der Langener Stadtkirche und eine Diskussionsrunde in Götzenhain mit dem Thema "Was bedeutet Taufe für mich und mein Leben?"
"Taufe heißt die Zusage: du bist angenommen, so wie du bist", sagt Reinhard Zincke. "Und deshalb ist Taufe weiter gefasst als nur auf die Lokalgemeinde." Der Geistliche nennt die Taufe am Waldsee ein niederschwelliges Angebot, von denen die evangelische Kirche mehr schaffen müsse. "Die Mobilität der Menschen steht der Bindung zur Lokalgemeinde oft im Weg." Deswegen sei die Taufe am Waldsee genau das Richtige für viele, die sich vielleicht nicht trauten, sich vor einer geschlossenen, eingelebten Gemeinde für eine Taufe zu entscheiden. "Das Denken der Lokalgemeinde ist oft auf Grenzen aufgebaut", sagt Zincke. Deshalb spräche die offene Taufe am Waldsee beispielsweise auch viele Patchwork-Familien an, die mit ihren durcheinandergewirbelten Familienstrukturen ein konventionelles Fest fürchteten.
Für jeden einen eigenen Taufspruch
Begonnen hatte das Themenjahr des Dekanats mit Familiengottesdiensten in den Gemeinden, in denen die Gemeindemitglieder ihre Taufsprüche auf mannshohe Stoffbahnen aufschrieben. Heute hängen die Stoffbahnen an den Seitenwänden des weißen Zeltes am Waldsee, in dem die Familien darauf warten, dass ihre Kinder zur Taufe gerufen werden. Und dass die Pfarrerinnen und Pfarrer den Kindern ihre eigenen Taufsprüche mit auf den Weg geben.
Lilian Dann und ihre Familie stehen am Rande des Wassers. Unter einem orangefarbenen Schirm ist ein kleiner runder Tisch aufgebaut. Lilians Taufkerze steht darauf, doch bevor Pfarrerin Martina Schefzyk Lilian tauft, ist erst die elfjährige Benita dran. Zusammen mit der Pfarrerin und ihrer Patin läuft sie ins Wasser, beugt ihren Kopf und die Pfarrerin schöpft Wasser aus dem See, dass sie Benita über die Haare gießt. Lilian beobachtet den Vorgang genau. Ihre Aufregung ist jetzt groß, sie knetet ihre Hände. "Ich will tiefer hinein ins Wasser", sagt sie.
Und schon steht sie bis zur Hüfte im Wasser und beugt ihren blonden Haarschopf. Ihr Pate im schwarzen Anzug hat seine Hosenbeine hochgekrempelt. Aber so weit wie sie steht er nicht im Wasser. "Liebt eure Feinde; tut wohl denen, die euch hassen; segnet, die euch verfluchen; bittet für die, die euch beleidigen." (Lukas 6, 27f), so lautet Lilians Taufspruch. Sie nimmt ihre Taufkerze entgegen, ihre Eltern küssen sie. Lilian hat sich entschieden. Ohne Fernrohr blickt sie stolz auf den sandigen Weg hoch zu dem weißen Zelt, wo heute alles begann.
Lilith Becker ist Autorin bei evangelisch.de und arbeitet als freie Journalistin in Frankfurt a.M. für Print und Hörfunk.