Überlebende auf Utøya: Zurück auf der Insel des Grauens
Das norwegische Volk feiert morgen einen Nationalen Gedenktag, einen Monat nach dem Doppelanschlag von Oslo und der Insel Utøya. Viele Menschen werden sich dabei an die 77 Toten erinnern und versuchen, den Trauernden Beistand zu leisten. Gestern durften Angehörige der Ermordeten auf die Insel. Heute sind es die Überlebenden, die dorthin gehen können, wo das alles geschah. Jetzt, wo die Wunden zu heilen beginnen, werden sie womöglich wieder neu aufgerissen. Macht das Sinn?
19.08.2011
Von Hans Erich Thomé

Trauer braucht Zeit. Wer einen Menschen verloren hat und damit einen wichtigen Inhalt des eigenen Lebens, wird die Bilder des Schreckens nicht so schnell loswerden. Und wird mit rückwärts gewandtem Blick die schlimmen Ereignisse immer wieder vor Augen haben. Deshalb kommen Ratschläge wohlmeinender Mitmenschen häufig zu früh: "Schau nach vorn! Das Leben geht weiter!" Ja, irgendwann wird hoffentlich der Zeitpunkt kommen, wo Trauernde ihr Leben wieder neu annehmen. Aber wer diesen Prozess beschleunigen will, wird dem Menschen, dem er helfen will, eher schaden.

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Nach vier Wochen können die Angehörigen der Toten auf der Insel Utøya noch nicht soweit sein, dass sie nach vorne schauen. Ihr Blick ist noch gefangen von dem, was war. Deshalb ist es gut, dass die norwegische Regierung mit ihrem Gedenktag Raum gibt für die Erinnerung. Raum für Trauer. Raum für den Blick zurück.

Aber was ist mit dem Angebot, dass Angehörige und Überlebende diese Insel des Schreckens aufsuchen können? Ich stelle mir vor, was sie da zu sehen bekommen: Schusslöcher in Bäumen. Vielleicht auch noch Blutspuren auf der Erde. Wer sie sucht, wird sie finden. Und dann die forschenden und gleichzeitig ängstlichen Blicke: Wo genau ist es gewesen? Wo ist sie gestorben? Eine Natur, die in Unordnung gekommen ist, die die Spuren der Katastrophe zeigt, ist kein Platz, an dem man zur Ruhe kommen wird. Raimar Kremer, Pfarrer und verantwortlich für die Notfallseelsorge in Hessen, sagt dazu: "Eine verwundete Insel kann keine verwundeten Seelen heilen."

Die Angehörigen brauchen die Begleitung

Aber in der Phase der Trauer, in der diese Menschen jetzt sind, brauchen sie wahrscheinlich auch keinen Ort der Ruhe. Sie müssen irgendwohin mit ihren Ausbrüchen von Wut und Zorn und Trauer. Sie wollen nicht abgelenkt werden von dem Schlimmen, das ihnen zugefügt wurde. Deshalb kann es auch gut für sie sein, den Ort des Schlimmen aufzusuchen. Dabei können sie nicht auf Menschen verzichten, die sie begleiten. Die zuhören und auffangen und Tränen trocknen. Mehr nicht. Und sie brauchen Menschen, die am Sonntag bei der Gedenkzeremonie mit ihnen trauern. Und beten.

Die Insel wird die Spuren des Attentats verlieren. Dafür sorgt die Natur und die Zeit, die Wunden heilt. Vielleicht wird sie irgendwann einmal ein Ort der Ruhe sein, an dem auch noch nach Jahren Erinnerung möglich ist. Die Insel wird zu Ruhe kommen. Den vielen Trauernden wünschen wir das von Herzen.


Dieser Zuspruch ist am Samstag, 20. August, morgens im Hörfunkprogramm hr1 gesendet worden. Hans Erich Thomé ist seit 1995 am Theologischen Seminar Herborn in der Ausbildung von Pfarrerinnen und Pfarrer tätig, sein Schwerpunkt ist die Gestaltung von Gottesdiensten und Predigten.