Aus den Reihen der evangelischen Christen kommt wenige Wochen vor dem Besuch Papst Benedikts XVI. in Deutschland, dem Kernland der Reformation, der Vorschlag, dem Papst einen Ehrenprimat als Vertreter aller Christen einzuräumen. Damit könne die schmerzliche Situation der Christenheit "als eine in Tausend Kirchen gespaltene Religion" überwunden werden, schreibt der emeritierte Theologieprofessor und Ökumeniker Reinhard Frieling. "Mit einem gemeinsamen Ehrenoberhaupt", meint der Theologe, "würde das Christentum seine Botschaft glaubwürdiger vertreten".
Der Traum von der einen, hörbaren christlichen Stimme in der Medienwelt von heute darf geträumt werden. Er ist wie viele Träume Ausdruck einer Sehnsucht. Genauerer Betrachtung der christlichen Wirklichkeit hält er nicht stand. Ein Ehrenprimat für den Papst, das weiß auch der renommierte Experte Frieling, würde von der römischen Kirche tiefgreifende Veränderungen verlangen, die weder der derzeitige Papst noch seine Mitstreiter aus der Kurie überhaupt nur zu denken gewillt sind.
Einheit wird bei Eucharistie verweigert
Die zentralen evangelischen Frage, um die es geht, sind bekannt: Kann es einen Ehrenvorsitz als Symbol einer Einheit geben, die aber weiterhin bekennenden Christen am katholischen Tisch des Herrn (bei der Eucharistie) verweigert wird? Kann er für alle Christen sprechen, ohne dass die Dogmen von der allgemeinen Jurisdiktionsgewalt und der Unfehlbarkeit des Papstes offiziell verworfen werden? Es steht nicht zu vermuten, dass Rom sich an diesen elementaren Punkten bewegt.
Rein theologisch stellt sich die Frage eigentlich für einen Lutheraner wie Frieling gar nicht. Denn folgt man dem von mir neulich in einem Kommentar zum Reformationsjubiläum zitierten Kirchenbegriff Martin Luthers, dann hat die christliche Kirche bereits ein Oberhaupt: Jesus Christus. Luthers Kirchenbild, niedergeschrieben 1528, liest sich so:
"Danach glaube ich, dass eine, heilige, christliche Kirche ist auf Erden, das heißt die Gemeinde, Menge oder Versammlung aller Christen in aller Welt, die eine Braut Christi und sein geistlicher Leib, dessen einziges Haupt er ist. Die Bischöfe oder Pfarrer sind nicht ihre Häupter noch Herren noch Bräutigame, sondern ihre Diener, Freunde. [...] Diese Christenheit findet sich nicht allein unter der römischen Kirche und dem Papst, sondern in aller Welt, wie die Propheten verkündigt haben, dass das Evangelium von Christus werde in alle Welt kommen, [...] dass also unter Papst, Türken, Persern, Tataren und allenthalben die Christenheit zerstreut ist leiblich, versammelt geistlich, in einem Evangelium und einem Glauben unter einem Haupt, das Jesus Christus ist."
Luther: Oberhaupt-Idee ist "antichristlich"
Und ein paar Zeilen weiter schreibt Doktor Luther, dass die Idee eines "Oberhauptes" der Kirche neben oder in der Stellvertretung Jesu Christi "widerchristlich" sei oder "antichristlich". Einen "Sprecher" oder "Ehrenvorsitzenden" der Christenheit könnte ich, der ich Luthers Kirchenbild für unnachahmlich genau und ökumenisch gehaltvoll formuliert halte, akzeptieren. Allerdings nicht gewählt von einem Kardinalskollegium ohne Beteiligung von Orthodoxen, Anglikanern und Protestanten.
Es gibt übrigens eine hervorragende Basis für eine solche Konstruktion: den Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK) mit Sitz in Genf. Dem ÖRK gehören 349 Kirchen mit mehr als 560 Millionen Christen in 110 Ländern an. Kirchen mit höchst unterschiedlichen Profilen und theologischen Kernaussagen sind dabei, die Mehrzahl der orthodoxen Kirchen, zahlreiche anglikanische, baptistische, lutherische, methodistische und reformierte Kirchen, sowie viele vereinigte und unabhängige Kirchen. Nur die römisch-katholische Kirche macht nicht mit. Schade. Warum nur? Eben weil sie sich als die einzig wahre Kirche betrachtet. Solange das so ist, wird Frielings Traum ein Traum bleiben. Ich vermute: noch sehr, sehr lange!
Arnd Brummer ist Chefredakteur des evangelischen Magazins "chrismon", Geschäftsführer des Hansischen Druck- und Verlagshaus und Chefredakteur von evangelisch.de. Im September erscheint in der edition chrismon Arnd Brummers Buch "Unter Ketzern – warum ich evangelisch bin".