Kehrt die Finanzkrise wieder zurück?
Andreas Mayert vom Sozialwissenschaftlichen Institut der EKD erklärt die Börsenturbulenzen. Seiner Ansicht nach existieren wichtige Unterschiede zwischen dem September 2008 und dem August 2011.
19.08.2011
Von Andreas Mayert

Als der deutsche Börsenindex DAX am 26. Juli eine Talfahrt begann, an deren vorläufigen Ende er am 10. August ein Viertel seines Wertes eingebüßt hatte, fühlten sich viele an die Ereignisse nach der Pleite der US-Investmentbank Lehman Brothers erinnert. Heute wie damals scheinen vielen die Entwicklungen an den Finanzmärkten wie eine ebenso schicksalhafte wie zerstörerische Naturgewalt. Und in der Tat sind die aktuellen Ereignisse in hohem Maße gefährlich und mahnen zu einem schnellen und spürbaren politischen Eingreifen. Es existieren jedoch auch wichtige Unterschiede zwischen dem September 2008 und dem August 2011.

Die Krise des Jahres 2008 wurde durch katastrophale Fehlentwicklungen auf den Finanzmärkten verursacht. Sie führte zunächst zu einer schweren Vertrauenskrise der Finanzmarktakteure untereinander und griff erst dann auf die Realwirtschaft über. Sie war, wie oft beschrieben worden ist, ein Schock für langgehegte Vorstellungen über die Effizienz der Finanzmärkte.

Die Mutlosigkeit der Politik begünstigt den aktuellen Börsencrash

Den aktuellen krisenhaften Entwicklungen fehlt dagegen das Element der Überraschung beinahe vollständig. Das mag zum einen daran liegen, dass wir uns an Krisenrhetorik und Berichte über Milliardenverluste gewöhnt haben. Der Hauptgrund dürfte jedoch darin zu sehen sein, dass sich die aktuellen Verwerfungen durch verschiedene Ereignisse deutlich angekündigt haben. Dieser Börsencrash ist daher anders: Er hat seinen Ursprung in der Realwirtschaft und ist zu weiten Teilen eine Reaktion auf die Rat- und Mutlosigkeit der Politik, anstehende Probleme zu lösen.

Überraschend ist allerdings die Heftigkeit der Marktreaktionen, für die es wohl keine monokausale Erklärung gibt. Vermutlich hat das Aufeinandertreffen verschiedener Entwicklungen dazu geführt, dass die Marktteilnehmer das erlebt haben, was der US-Ökonom Paul Krugman mit einem treffenden Bild einen "Kojote-Karl-Augenblick" nennt. Wir erinnern uns: Wenn die gleichnamige Cartoon-Figur bei der Jagd nach ihrem Opfer in einen Abgrund gerät, läuft sie noch einen Moment weiter, so als sei nichts geschehen. Erst nach einiger Zeit wird ihr der Mangel an Fundament unter den eigenen Füßen bewusst, und nach einem erstaunten Blick folgt der ebenso unvermeidliche wie heftige Absturz. Wenn wir noch einen Moment bei diesem Bild bleiben, müssen wir uns die Frage stellen, was genau den Marktteilnehmern in den letzten Wochen bewusstgeworden ist - und welche Bedeutung diese Erkenntnis für uns hat.

Staaten im Strudel der Schuldenkrise

Sucht man nach Ursachen des Absturzes der Finanzmärkte, dann fällt der erste Blick auf eine Entwicklung, die heute meist unter dem Begriff Schuldenkrise gefasst wird. Beschrieben werden mit diesem Begriff Staaten, deren wirtschaftliche Situation als so problematisch eingestuft wird, dass man ihnen eine Überwindung ihrer prekären Finanzsituation und eine Bedienung aufgenommener Staatsschulden nicht mehr zutraut. Inwiefern hatte die Schuldenkrise Anteil an der jüngsten Finanzmarktentwicklung? An dieser Stelle muss differenziert werden, denn unter den Oberbegriff Schuldenkrise werden Staaten subsumiert, die sich in einer sehr unterschiedlichen Situation befinden.

Einige Staaten stehen so schlecht da, dass sie sich ohne externe Hilfe bereits seit geraumer Zeit nicht mehr am Markt refinanzieren könnten und damit zahlungsunfähig wären. Zu nennen sind hier Griechenland, Irland und Portugal. Es gibt erhebliche Zweifel, ob sich diese Staaten ohne einen Schuldenschnitt jemals wieder aus ihrer Situation befreien können.

Angekündigte Haushaltseinsprungen verstärkten negative Marktreaktionen

Für Griechenland wurde daher im Juli eine Lösung gefunden, die immerhin einen teilweisen Forderungsverzicht der Gläubiger vorsieht, die Zweifel sind jedoch geblieben. Die Unsicherheit über die weitere Entwicklung dieser Staaten hat sicherlich Anteil an der Nervosität der Märkte. Der Eindruck ist, dass die Europäische Union weitestgehend ratlos ist, wie den überschuldeten Staaten langfristig auf die Beine geholfen werden kann. Bislang wurde auf Finanzmarktentwicklungen stets nur reagiert. Prospektive Maßnahmen zur Erzeugung von Wachstum und Stabilität sind nicht erkennbar.

Für die aktuellen Marktverwerfungen noch entscheidender scheint zu sein, dass in den letzten Wochen nun auch verschiedene große Eurostaaten einem extremen Anstieg der auf ihre Schuldtitel zu entrichtenden Risikoprämien ausgesetzt waren. Betroffen waren vor allem Italien und Spanien. Vom 1. Juli bis zum 4. August nahm die Verzinsung zehnjähriger Staatsanleihen in Italien von 4,9 auf 6,3 Prozent und in Spanien von 5,4 auf 6,3 Prozent zu. (Zum Vergleich: In Deutschland nahmen im gleichen Zeitraum die Renditen zehnjähriger Staatsanleihen von 3,1 auf 2,2 Prozent ab.) Diese Entwicklung war nicht nur deshalb gefährlich, weil sie Skepsis über die Zahlungsfähigkeit dieser Volkswirtschaften signalisierte. In Bezug auf die Gefahr einer Staatsinsolvenz beinhaltete sie zudem den Keim einer selbsterfüllenden Prophezeiung: Kein Staat kann auf Dauer Zinslasten auf diesem Niveau tragen. Interessant ist, dass Ankündigungen der betroffenen Staaten, in Zukunft auf noch größere Haushaltseinsparungen zu setzen, die negativen Marktreaktionen sogar verstärkten. Erst als die Europäische Zentralbank am 8. August begann, italienische und spanische Staatsanleihen aufzukaufen, beruhigte sich die Situation ein wenig. Die grundlegenden ökonomischen Probleme dieser Staaten bleiben davon jedoch unbeeinflusst.

Die Angst vor dem weltweiten Crash der Börsen

Beherrscht wurden die Nachrichten der letzten Wochen zudem von der Auseinandersetzung über die Anhebung der Verschuldungsgrenze in den Vereinigten Staaten. Auch hier schien ein Staatsbankrott nicht mehr ausgeschlossen (Foto links: iStockphoto). Der weltweite Absturz der Börsen erfolgte jedoch erst nach der erzielten Einigung über die Anhebung der Staatsschuldengrenze und nach der anschließend dennoch erfolgenden Abstufung der Bonität US-amerikanischer Schuldentitel durch die Ratingagentur Standard and Poor’s. Dieser Zusammenhang ist bemerkenswert, denn zur gleichen Zeit flüchteten Anleger in und nicht aus amerikanischen Staatsanleihen. Deren Verzinsung liegt mittlerweile sogar 0,1 Prozentpunkte unter jener deutscher Schuldtitel. Die Marktreaktion legt daher die Interpretation nahe, dass Anleger nicht die Bonität der Vereinigten Staaten, sondern die wirtschaftliche Situation des Landes als das drängendste Problem ansehen.

Wie sind diese Entwicklungen zu deuten? Wir beobachten eine dramatische Flucht aus Staatsanleihen wirtschaftlich schlecht aufgestellter und mit hohen Staatsschulden belasteter Eurostaaten. Diese Flucht wird begleitet von einer ebenso dramatischen Kapitalflucht aus den Aktienmärkten. Das freigesetzte Kapital fließt in das, was an den Finanzmärkten "sichere Häfen" genannt wird: Deutsche und amerikanische Staatsanleihen, verschiedene Währungen und Edelmetalle. Alle diese Entwicklungen deuten in eine Richtung: Die Finanzmärkte erwarten eine schwere Rezession, die bereits angeschlagene Staaten mit besonderer Wucht treffen wird. Und damit nähern wir uns dem Kern des „Kojote-Karl-Augenblicks“ auf den Finanzmärkten.

Konjunkturpakete zur Stützung der Realwirtschaft laufen aus

Dort hat man sich offenbar eine sehr einfache Frage gestellt: Woher soll eigentlich die Kraft für eine stabile Weltkonjunktur und ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum kommen? Zwar konnten die Folgen der Finanzkrise des Jahres 2008 mit Hilfe umfangreicher Rettungspakete für den Finanzsektor und klassischer Stabilitätspolitik in Grenzen gehalten werden. Ansonsten aber wurde wenig Mut bei der Gestaltung der Wirtschaftspolitik, der Weiterentwicklung des europäischen Wirtschaftsraums und der Regulierung der Finanzmärkte bewiesen. Überall laufen nun die Konjunkturpakete zur Stützung der Realwirtschaft aus.

Zur gleichen Zeit wird die Zeit expansiver Fiskalpolitik in vielen Staaten nicht von einer Rückkehr zum Normalzustand, sondern von strenger Austerität abgelöst. In den Vereinigten Staaten wurde ein gigantisches Sparpaket verabschiedet. In Europa werden Staaten, die sich bereits im wirtschaftlichen Niedergang befinden, zu Sparmaßnahmen verpflichtet, die im kompletten Gegensatz zur ökonomischen Logik jener Maßnahmen stehen, die einen Absturz der Weltkonjunktur nach der Finanzkrise verhindert haben.

Chinas Wirtschaft steht vor einer Überhitzung

Zudem ist es ein offenes Geheimnis, dass kein großes Industrieland mehr die Kraft besitzt, einer erneuten Krise durch weitere Stützungsmaßnahmen entgegenzutreten. Und die Signale aus der Realwirtschaft sind bereits schlecht. Anfang August wurden in den USA katastrophale Zahlen zur Entwicklung des Arbeitsmarktes vorgelegt. In einigen derzeit noch relativ kräftig wachsenden Staaten der Eurozone – vor allem Deutschland – gibt es starke Anzeichen einer Eintrübung des Aufschwungs. In Frankreich ist das Wachstum bereits eingebrochen. Andere Eurostaaten haben die Rezession nie überwunden. In China, bislang Motor der Weltkonjunktur, mehren sich die Signale, dass die Wirtschaft vor einer Überhitzung steht und daher künftig deutlich geringer wachsen wird.

Diese bereits für sich besorgniserregenden Entwicklungen treffen auf einen Finanzsektor, der immer noch angeschlagen und – was viel schlimmer ist – mit den gleichen Schwächen behaftet ist wie vor der Finanzkrise 2008. Entgegen den Ankündigungen werden Banken und andere Finanzmarktakteure heute kaum strenger reguliert als vor Lehman Brothers. Banken sind immer noch unterkapitalisiert und daher extrem krisenanfällig.

Das Herdenverhalten in der Börse ist eine treibende Kraft

Ist die nächste Rezession damit unvermeidlich? Vom US-Ökonomen Paul Samuelson stammt der Witz, dass die Börse neun der letzten fünf Rezessionen vorhergesagt hat. Mit anderen Worten: Die Börse neigt zu Übertreibungen und viele Händler zu Herdenverhalten. Es ist daher durchaus möglich, dass der Absturz der Börsen ohne große Auswirkungen auf die wirtschaftliche Situation bleiben wird. Aus zwei Gründen sollte man die aktuelle Talfahrt der Märkte jedoch sehr ernst nehmen. Erstens hat sich die Krise angekündigt, sie hat fundamentale Ursachen. Zweitens könnten Nichtstun und Beschwichtigung fatale Folgen haben. Die Industriestaaten haben ihr Pulver nach der Finanzkrise 2008 weitestgehend verschossen. Eine weitere Rezession könnte daher in eine langjährige Depression mit ungeahnten Folgen – zum Beispiel für die Zukunft der Europäischen Union - münden.

Wege aus der Krise

Was kann man also tun? Die erste Reaktion sollte darin bestehen, sich nun auf die Probleme der Gegenwart zu besinnen und Zukunftsprobleme dann in Angriff zu nehmen, wenn die Kraft dazu vorhanden ist. Im Moment geht es daher darum, die Weltkonjunktur zu stützen und auf umfangreiche Sparprogramme zu verzichten. Zweitens sollte die Europäische Union endlich die Kraft zu einer uneingeschränkten Solidarität mit ihren Krisenstaaten aufbringen. Erst wenn den Finanzmärkten klar geworden ist, dass der Austritt einzelner Staaten aus dem Euroraum unverhandelbar ist, werden Spekulationen gegen einzelne Staaten aufhören. Diese Solidarität mag zum Teil Gerechtigkeitsgefühle verletzen – aber das ist der Preis jedes Solidarsystems.

Drittens sollten Staaten, denen es zurzeit vergleichsweise gut geht, das Fundament für ein stabiles und nachhaltiges Wachstum legen, indem die Erwerbsbevölkerung durch eine kräftige Zunahme der Reallöhne an den Früchten ihrer Leistung beteiligt wird. Das ist nicht nur gerecht, sondern auch ein Gebot ökonomischer Vernunft. Viertens sollte der Finanzsektor endlich robust reguliert werden. Es ist schlicht nicht notwendig, dass nach jedem Windhauch auf den Finanzmärkten das Gespenst der Bankenkrise umgehen muss. Ein stärkeres Vertrauen in die Krisenfestigkeit des Finanzsektors würde auch die extreme Nervosität der Märkte eindämmen.

Vielleicht hat der erneute Absturz der Märkte auch eine positive Wirkung. Er erinnert uns an das, was wir nach der Finanzkrise 2008 eigentlich gelernt haben sollten: Märkte allein sorgen nicht für Wachstum und Stabilität. Wir benötigen auch eine vernünftige politische Steuerung.


Andreas Mayert ist promovierter Sozialwissenschaftler und Diplom-Volkswirt. Vor seiner Tätigkeit am Sozialwissenschaftlichen Institut der EKD war er am Lehrstuhl für Sozialpolitik und Sozialökonomie der Ruhr-Universität Bochum beschäftigt. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Sozial- und Wirtschaftspolitik sowie die Ökonomische Theorie sozialer Normen.

Zur Lage auf den Finanzmärkten hat er das Buch "Dienen statt herrschen - Zur Zähmung der Finanzmärkte" geschrieben, veröffentlicht im LIT Verlag Münster, August 2011.

Die Analyse von Mayert ist im Fachdienst epd-sozial erschienen.