"Der Protest der Zukunft findet im Internet statt"
Twitter, Facebook & Co spielen bei Protesten eine zunehmend größere Rolle. Kommunikationssoziologe Jan-Hinrik Schmidt erklärt, welchen Einfluss soziale Netzwerke auf den politischen Protest tatsächlich haben.
11.08.2011
Die Fragen stellte Markus Bechtold

evangelisch.de: Gäbe es die Proteste in London, Nordafrika oder zu Stuttgart 21 überhaupt ohne soziale Netzwerke wie Facebook, Twitter oder Youtube?

Jan-Hinrik Schmidt: Auch ohne Social Media gäbe es Proteste. In der Menschheitsgeschichte hat es immer Proteste gegen Herrschaft oder gegen politische Entscheidungen gegeben, die jeweils mit den technischen Medien ihrer Zeit koordiniert wurden. Beispiele sind die gedruckten Flugblätter während der Französischen Revolution, der Telegraf war in der russischen Revolution wichtig, und im Iran Ende der 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts waren es Kassetten mit religiösen Ansprachen der Mullahs, die auf Basaren gehandelt wurden. Die Medien der jeweiligen Zeit haben immer dazu beigetragen, dass sich Informationen oder politische Positionen durchgesetzt haben und dass Menschen sich koordinieren, absprechen und verabreden konnten. Mit den heutigen digitalen Technologien, wie Mobiltelefonen und Smartphones, können sich Informationen besser verbreiten und es entstehen neue Öffentlichkeiten, in denen sich Menschen austauschen.

Welche sozialen Netzwerke sind hierbei besonders einflussreich?

Schmidt: Im Zusammenspiel erfüllen die sozialen Netzwerke unterschiedliche Funktionen. Twitter ist sehr gut dafür geeignet, dass sich Informationen relativ rasch schneeballartig verbreiten können. Facebook ermöglicht zusätzlich die Koordination von Events oder Demonstrationen. Facebook ist auch eine Multimediaplattform, weil man dort Presseartikel, Fotos oder Videos von Augenzeugen einbinden und verlinken kann. Diese Informationen lassen sich kommentieren, bewerten, empfehlen und damit wieder weiterverbreiten.

Wer sind die Nutzer und welchen Einfluss haben die neuen Medien auf den politischen Protest?

Schmidt: Für jüngere Menschen unter 40 Jahren ist die Nutzung der neuen Kommunikationstechnologie selbstverständlicher als bei den 60-Jährigen. Man greift einfach zu Twitter oder zu Facebook, wenn man bestimmte Informationen verbreiten möchte oder wenn man sich informieren möchte, was gerade das eigene soziale Netzwerk über bestimmte Dinge denkt. Das heißt aber nicht, dass diese Werkzeuge ursächlich dafür verantwortlich sind, dass es zu bestimmten Protesten kommt. Im Fall von London wäre es völlig falsch zu sagen, dass durch Twitter, Facebook und Blackberry diese Proteste erst Wirklichkeit geworden sind. Gerade bei politischen Protesten sind immer noch handfestere Ursachen vorhanden: Arbeitslosigkeit, Unzufriedenheit, mangelnde Perspektiven oder Armut. In London, Ägypten oder Tunesien waren die digitalen Medien ein Werkzeug, das es Menschen erleichtert hat, die eigenen Interessen zu koordinieren und zu mobilisieren.

Gib es einen eigenen Kult um den Protest?

Schmidt: Ich vermute, dass hinter all den Ausschreitungen nicht allein politische Gründe stecken. Da ist vermutlich auch die Lust, Autos und Häuser anzünden. Es gibt sicherlich auch den Protest als Event. Nach dem Motto: „Endlich ist mal was los“, vergleichbar mit den 1. Mai-Krawallen, die wir in Deutschland seit Jahren haben.

Während die Protestgruppen twittern, bloggen oder facebooken, geben Politiker Zeitungen Interviews. Muss man heute im Kampf um Aufmerksamkeit überhaupt auf Multimedia setzen?

Schmidt: Aus ihrer Sicht tun beide Gruppen das jeweils Richtige. Für Politiker sind die Massenmedien nach wie vor das Forum, um Massenreichweite zu erzielen. Für einen Politiker ist es im Zweifel wichtiger, in der Tagesschau mit einem kurzen Statement vertreten zu sein, als dass ein Facebook-Artikel 100-mal „geliket“ wird. Die Nutzung von Facebook und Twitter und anderen Kommunikationstechnologien durch die Protestler oder Bürgerinitiativen, wie etwa im Fall Stuttgart 21, zeigt aber auch, dass die Hürden gesunken sind, für beliebige Anliegen Öffentlichkeit herzustellen. Das ist nicht die Öffentlichkeit der Massenmedien, aber es ist mehr Öffentlichkeit, als das monatliche Treffen im Hinterzimmer der Vereinskneipe mit sich bringt. Mit bestimmten Forderungen, politischen Inhalten oder Aktionen lassen sich über die neuen Medien Reichweite und Öffentlichkeit erzielen. Die Protestler erzeugen eine Gegenöffentlichkeit, eine Publizität für Themen, die es aus welchen Gründen auch immer nicht auf die Agenda der klassischen Medien schaffen. Interessant ist, dass die klassischen Medien inzwischen auch diese neuen Öffentlichkeiten beobachten und in ihrer Berichterstattung aufgreifen.

Ist die Politik darauf eingestellt, richtig mit den Protestformen im Social Media-Bereich umgehen zu können?

Schmidt: Für die Politik in England ist es gerade die größere Herausforderung, mit den Protesten in der realen Welt zurecht zu kommen. Die verschiedenen Nutzungsweisen zeigen, dass die Technologien nicht von vorn herein eine bestimmte positive oder negative Nutzung vorschreiben. Über ein und dieselbe Plattform oder dasselbe digitale Medium lässt sich sowohl zu einem Aufstand mobilisieren oder etwa wie in London auch koordinieren, dass das Stadtviertel nach den Protesten wieder aufgeräumt wird. Für die Politik ist schwer zu greifen, dass auf einmal auch abweichende Stimmen, Protest oder Widerspruch sichtbar werden (Foto: dpa). Unzufriedene junge Männer gab es in England auch schon, bevor es Twitter und Blackberry gab. Sie hatten nur nicht die technischen Mittel, sich zu vernetzen und eine Öffentlichkeit zu erreichen. Ich glaube, für die Politik kommt es nun nicht in erster Linie darauf an, auf diese mediale Entwicklung zu reagieren, sondern dies zum Anlass zu nehmen, über gesellschaftliche Veränderungen nachzudenken: Woher kommt so viel Arbeitslosigkeit, dass bestimmte Bevölkerungsgruppen systematisch von Wohlstand abgekoppelt werden?

Werden durch das Internet extremere Gruppen angesprochen?

Schmidt: Ich glaube nicht. Durch das Internet wird aber sichtbar, dass es in der Gesellschaft einen bestimmten Anteil von Menschen gibt, die extreme Positionen vertreten. In den 70er, 80er, 90er Jahren gab es auch Leute, die extremistische Positionen vertreten haben. Sie waren nur nicht so sichtbar. Hat man nicht zufällig in einem Stadtviertel gewohnt, in dem bestimmte Gruppen stark waren, nahm man das gar nicht wahr, da im Journalismus aus guten Gründen die extremen Stimmen kein Gehör hatten. Im Social Web wird auf einmal sichtbar, was da gärt, was sich da formiert.

Welchen Stellenwert hat das Internet während eines laufenden Protests?

Schmidt: Eine große Rolle spielt die Koordination, das Formieren von Meinungen, das Aushandeln von Positionen. Das Internet ist der Kanal, über den eine breitere Öffentlichkeit erzeugt wird. Nutzern in Deutschland wird ermöglicht, über Dienste wie Flickr, Youtube oder Twitter „mit dabei zu sein“ und beobachten zu können, wie da vielleicht bestimmte Dinge auch ohne das journalistische Filtern der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Während der Proteste in Nordafrika konnte man relativ schnell und fast in Echtzeit Augenzeugenberichte sehen oder sich über Twitteraccounts von Aktivisten in Ägypten informieren, was sie in diesem Moment gerade tun oder denken.

Wie sieht für Sie der Protest der Zukunft aus?

Schmidt: Die digitalen Medien, insbesondere die mobilen Medien wie die Smartphones, führen dazu, dass wir im Prinzip ständig online sein können. Wir werden Proteste erleben, die uns "noch spontaner" erscheinen. Scheinbar kommen sie aus dem Nichts, weil sie sich über die neuen Medientechnologien relativ schnell formieren können. Anderer Protest wird sich innerhalb des Internets gegen Ungleichheiten oder gegen bestimmte Machtstrukturen des Web richten. Überspitzt gesagt wird es irgendwann Demonstrationen von Nutzern gegen Facebook oder Google geben, die das Gefühl haben, diese Unternehmen missbrauchten ihre Macht.

Und wo finden diese Demonstrationen statt?

Schmidt: Sie werden eher durch kreative Aktionen online stattfinden. Aber wer weiß, vielleicht erleben wir die erste Demonstration von World of Warcraft-Spielern, die sich gegen irgendwelche Beschneidung ihrer Spielfunktionen wehren und in Berlin vor dem Brandenburger Tor demonstrieren. Ausschließen würde ich das nicht.


Dr. Jan-Hinrik Schmidt ist Kommunikationssoziologe am Hans-Bredow-Institut für Medienforschung an der Universität Hamburg.

Markus Bechtold ist Redakteur bei evangelisch.de.