"Die Bilder gehen mir nur schwer aus dem Kopf"
Die Tübinger Studentin Judith Kühl war als Medienkoordinatorin des christlichen medizinischen Hilfswerks "humedica" in den vergangenen zwei Wochen im Süden Äthiopiens, an der Grenze zu Somalia. Sie hatte zuvor schon viel Leid in Pakistan und Haiti gesehen. Doch die Situation am Horn von Afrika sprengt jede Vorstellungskraft, wie sie im nachfolgenden Beitrag berichtet.
09.08.2011
Von Judith Kühl

"Nehmt das Kind mit!" Eine Welle der Verzweiflung schlägt uns Helfern aus Deutschland entgegen. Eine Mutter zeigt auf uns, dann auf ihre einjährige Tochter. Die Kleine hat Angst. Das mit Tränen und Staub verschmierte Gesicht drückt sich schutzsuchend an den Hals der Mutter. Die wedelt mit ihrem letzten Geldschein in der Hand - der Preis, den sie uns zahlen will, wenn wir das Kind mitnehmen. Das Mädchen weint lauter, erschütternd für unsere Ohren. Eine Szene der Hoffnungslosigkeit an der Hauptstraße von Dolo Addo, fünf Kilometer vor der Grenze zu Somalia.

Die kleine Stadt, 1.000 Kilometer von der Hauptstadt entfernt, ist für die Äthiopier wie vergessen. Die Straße in den tiefen Süden wurde nie gebaut, nur eine Schotterpiste führt an die Grenze. Die Vegetation im weiten Umkreis ist lebensfeindlich: trockene Steppe, von Windböen aufgewirbelter Sand, stechende Sonne trotz Winterzeit auf der Südhalbkugel. Im armen Dolo hausen die Menschen überwiegend in runden Nomadenhütten. Strom gibt es nur vereinzelt, fließendes Wasser überhaupt nicht.

Die letzte Hoffnung

Für viele Flüchtlinge ist Dolo das Ziel ihrer letzten Hoffnung. Über 120.000 Somalier sind in den vergangenen Wochen über die Grenze gekommen. "Zu Hause wartet nur der Tod", sagt eine Frau, die eine tagelange Flucht hinter sich hat. Mehrere Regenzeiten sind in den vergangenen Monaten und Jahren ausgeblieben. Erst konnten die Menschen ihr Vieh nicht mehr füttern. Als die Lebensgrundlage starb, hatten sie selbst nichts mehr zum Essen. In Äthiopien hofften sie auf Unterkunft, Versorgung, medizinische Hilfe und Sicherheit.

Doch die wenige Hilfe in Dolo reicht nicht für die vielen Flüchtlinge, die in kurzer Zeit gekommen sind. Es fehlt an Wasser, Essen, Ärzten, Medizin. Der Zustand der Flüchtlinge ist katastrophal: Sie sind erschöpft, unterernährt und krank. Vor allem um Kinder unter fünf Jahren steht es ernst. Bei vielen geht es um Leben und Tod. Die drei bereits errichteten Flüchtlingslager sind mit je 30.000 Menschen überfüllt, der Bau neuer Camps zieht sich hin.

Über 15.000 Menschen warten auf die Fertigstellung im "Transit-Camp", das für nur 1.500 Menschen angelegt ist. Im Sand unter selbst gebauten Hütten aus Ästen und Lumpen hausen sie. Wie der Vater mit seinen drei Kindern, keines älter als sechs Jahre. Fiebrig liegen sie unter einigen zerfetzten Stoffresten auf durchnässter Pappe im Sand. Von der staatlichen Behörde für Flüchtlinge wurden sie registriert, doch dann sterbend allein gelassen. Die Kapazitäten sind erschöpft. Neben dem Camp sind frische Gräber im Sand errichtet.

Seit sieben Tagen nichts gegessen

In der Masse der Flüchtlinge werde ich mit zahlreichen Schicksalen konfrontiert. Viele Mütter wollen reden. Die Bilder gehen mir nur schwer aus dem Kopf. Wie das der elfjährigen Sara, die abgemagert und mit letzter Kraft apathisch an ihre Mutter gelehnt vor mir steht. Seit sieben Tagen hat sie nichts mehr gegessen, erzählt die Mutter. Ihre Oberarme sind so schmal, das ich sie mühelos mit Daumen und Ringfinger umschließen kann.

Als erstes deutsches Hilfsteam in Dolo haben wir von humedica uns einen Überblick über die Gesamtsituation verschafft, einheimische Helfer nach Krankheitsdiagnosen der Menschen gefragt und uns über Möglichkeiten der Zusammenarbeit erkundigt. Tausende hilfsbedürftige Menschen habe ich dabei gesehen. Nicht selten wirkte dieser Anblick hoffnungslos. Eine Ärztin aus dem Team erinnerte mich daran, auf Einzelne in der Masse zu achten. "Hilfe fängt immer beim Nächsten an", betonte sie.

"humedica" ist inzwischen mit einem zweiten medizinischen Team in Dolo. Auch Hilfsgüter-Transporte laufen an. Gebraucht werden Baby- und Spezialnahrung, Impfstoffe sowie Antibiotika. Noch ist nicht genügend Hilfe am Ort. Der kleine Fleck in der Steppe Äthiopiens bleibt bisher nahezu vergessen, außer für viele Somalier. Täglich kommen weitere hilfesuchend über die Grenze.

epd