Lokaljournalismus muss wieder sexy werden
Lokalzeitungen in Deutschland stehen unter Druck: die Umsätze sinken, Leser und Werbekunden wandern ab. Was können die Zeitungsverlage zur Sicherung ihrer Zukuft tun? Der Mainstream der strategischen Weiterentwicklung kennt praktisch nur eine Richtung: digital und mobil.
08.08.2011
Von Ralf Siepmann

Sich öden im Wartezimmer beim Arzt in Bocholt? Langeweile in der Kundenschlange beim Bäcker in Rhede? Menschen mit Interesse am aktuellen heimischen Geschehen muss dies nicht länger schrecken. Das lokale Video-Informations-System (Lovis) des "Bocholter-Borkener Volksblattes"(BBV) liefert Bilder vom Unfall auf dem Nordring in Metelen. Zugleich offeriert es der lokalen Geschäftswelt die Option tagesaktueller Werbung und Promotion außerhalb der gedruckten Zeitung. Bislang habe man knapp ein Dutzend Lovis-Verträge abschließen können, berichtet Sandra Kimm-Hamacher, Leiterin Neue Medien beim BBV. Die Idee, mit dem Videocontent-Service "einfach mal um die Ecke zu denken", ist der jüngste Ansatz des Zeitungshauses, die crossmedialen Chancen lokaler Angebote zu erkunden.

189 Euro pro Jahr zahlt der Kunde für einen "Premium Eintrag" im "GN-Finder" auf der Online-Plattform der "Grafschafter Nachrichten". Die Lokalzeitung in der Grafschaft Bentheim hat sich mit dem virtuellen Branchenbuch eine Variante des lokalen Webmarketings einfallen lassen. Der Dreh: Das Unternehmen präsentiert sich nicht nur wie beim herkömmlichen Eintrag mit Wort und Schrift. Es kann auch Dokumente und Videos hochladen. Laut André Hellmann, Geschäftsführer des Projektentwicklers netzstrategen, sorgt das Portal zudem dafür, "dass der Kunde bei Suchmaschinen wie Google besser gefunden wird".

Beispiel aus Schwaben: Lokale Inhalte auf dem iPad

Die "Schwäbische Zeitung" ist das bekannteste Beispiel für die Handvoll Regionalzeitungen, die ihre Inhalte bereits über das iPhone und das iPad verbreiten. Das iPad, sagt der Zeitungsdesigner Lukas Kircher, genieße bei lokalen Zeitungsverlagen den Ruf eines Prestigeobjekts. Das Smartphone dagegen weise einen Weg in die Zukunft: "Es ist gerade im regionalen Bereich das Medium der Zukunft, mit dem man neue Leser erschließen kann." Möglicherweise gelte dies nicht für dieselben Produkte wie im Printbereich.

"Um die Ecke denken", also neue Strategien im digitalen Medienumbruch entwickeln – diese Devise gilt wohl für alle 333 lokalen und regionalen Abonnementszeitungen. In den Verlagshäusern zwischen Flensburg und Füssen findet nichts weniger als eine digitale Remedur statt. Abspielkanäle für digitale Inhalte werden in der Erwartung neuer Erlösmodelle entwickelt. Traditionelle Redaktionsstrukturen werden aufgelöst und etwa in Newsrooms umgewandelt.

Die Erneuerer bauen Ressourcen für die Eigenproduktion von Videos auf und soziale Netzwerke in die redaktionellen Kommunikationskreisläufe mit dem Publikum ein. All dies geschieht unter dem Druck sinkender Umsätze und Erlöse bei wachsender Abwanderung klassischer Werbung und jüngerer Mediennutzer in digitale Angebote. "Die Zeitungen", sagt Branchenbeobachter Sebastian Turner, Partner der Werbeagentur Scholz & Friends, "sind sinkende Schiffe, wenn sie sich nicht neu erfinden."

Beispiel Berlin: "Prenzlauerberg-Nachrichten" im Netz

Ob sie sich neu erfinden wird sich in den nächsten zehn Jahren entscheiden. So viel Zeit geben Medienexperten den Verlagen maximal, um sich für die Zukunft unentbehrlich und unverwechselbar zu machen. Im Nahraum dürften die Chancen eines gelingenden Umstellungsprozesses noch relativ gut sein. 59 Prozent der Bundesdeutschen werden von lokalen Blättern erreicht. Neun von zehn Lesern haben ihre Lokalzeitung abonniert. 82 Prozent der Deutschen halten sie für unverzichtbar. Im hyperlokalen Terrain gibt es sogar Raum für neue Produkte - vor allem im Netz wie die "Prenzlauerberg-Nachrichten", die im Dezember starteten. Deren Geschäftsführer Philipp Schwörbel setzt darauf, dass sich die Hauptstadtzeitungen mehr und mehr aus der Bezirksberichterstattung zurückgezogen hätten.

Der Mainstream der strategischen Weiterentwicklung kennt praktisch nur eine Richtung: digital und mobil. Martin Wieske, Geschäftsführer des Verbandes Deutscher Lokalzeitungen, hält dies für "unerlässlich": "Auch wenn Lokalverlage nicht an der Spitze der technischen Revolution stehen müssen, so wird es unvermeidlich sein, die digitalen Möglichkeiten auszuschöpfen." Lokale Zeitungsinhalte müssten auch als App und e-Paper kostenpflichtig werden.

Zeitungen sind Rückgrat der Demokratie

Setzen die Manager geradezu magisch auf den digitalen Trend, tun sie dann auch automatisch das Richtige? Richtig wäre nach Ansicht von Thomas Krüger, Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung, eine "Erneuerung des Lokaljournalismus von innen heraus". Es komme darauf an, Rechercheleistung, Orientierungsfunktion und Meinungsintensität stärker zur Geltung zu bringen und via digitale Netzwerke mit dem Publikum mehr in Dialog zu kommen. Krüger hält die lokalen Zeitungen auch in Zukunft "als publizistisches Rückgrat der demokratischen Öffentlichkeit" für unersetzlich. Die Konsequenz: vorausschauende Investitionen. "Verlagsmanager", unterstreicht Krüger, "müssen sich fragen lassen, was sie tun können, um journalistische Qualität unter sich verschlechternden Bedingungen aufrechtzuerhalten."

Richtig wäre es nach Ansicht von André Zalbertus, Gründer des "total lokalen" Heimatfernsehens Center TV, wenn "Lokaljournalismus endlich wieder sexy wäre". Die Leser, redete Zalbertus kürzlich Branchenvertretern bei einer Veranstaltung des Bundesverbandes Deutscher Zeitungsverleger (BDZV) ins Gewissen, verlangten nach seriöser, gut recherchierter und unterhaltsam aufgemachter Berichterstattung aus ihrer Stadt oder ihrem Landkreis. Richtig wäre es demnach, die Blätter konsequent lokal auszurichten. Zalbertus an die Adresse der Verlagsmanager: "Haben Sie den Mut, das Regionale in Ihren Zeitungen nach vorn zu stellen."

Alleinstellungsmerkmal: das Lokale

Nach Erhebungen lag und liegt das Lokale mit Abstand im Themenranking an der Spitze, wenn nach dem Interessantesten in der Zeitung gefragt wird. Dennoch fehlt es im digitalen Medienumbruch den meisten Zeitungsmanagern an der Courage für den konsequenten Swing hin zur lokalen Schwerpunktsetzung in allen Ressorts. Auch an Entschiedenheit, das teure Printprodukt auf Analyse und Hintergrund zu fokussieren, die Website auf Aktualität und Themen für Minderheiten zu trimmen.

Die Lokalzeitung hole ihre Alleinstellung aus dem Lokalteil, befindet Turner. Und pointiert es so zu: "Was weiß der ‚Schwarzwälder Bote' Besonderes über Tunesien und die Wallstreet? Nichts." Aber er müsse alles wissen über das Geschehen in allen Tälern seines Verbreitungsgebiets. Die Strategie mithin: Lokale Qualität und Kompetenz auf allen Kanälen. Dann gern auch inklusive Fernsehen für den Bäcker am Ort.


Ralf Siepmann ist freier Journalist in Bonn.