"Ach, das soll eine Akelei sein? Die hätte ich aber nicht erkannt." Friedegard Enders steht in der Marienkirche, betrachtet die Ornamente an der Decke und wundert sich: Nur mit viel Sachkenntnis erkennt man die Pflanzenarten, denn die mittelalterliche Malerei reduziert stark auf die grundsätzlichen Formen und Farben. Den damaligen Künstlern ging es um Symbolik und Verzierung, nicht um ein genaues Abbild der Wirklichkeit.
Die Marienkirche von Michael Schroeders Wohnzimmerfenster aus betrachtet. Foto: Anika Kempf/evangelisch.de
Die Kirche wurde im 14. und 15. Jahrhundert erbaut, zum Teil noch mit Rundbögen aus der romanischen Periode, zum Teil schon mit hohen Spitzbogenfenstern aus der gotischen Zeit. Der Kirchturm ist der älteste Teil, sein unverputztes Mauerwerk passt zu den Altstadthäusern am Schlossplatz und zur fürstlichen Rentkammer nebenan. Ein paar Meter weiter im "Schloss" wohnt Fürst Alexander zu Stolberg-Roßla mit seiner Familie.
Immer wieder der Vermerk: "Gehört zu den Marienkräutern"
Michael Schroeder winkt über die Gartenmauer, als der Fürst im Bulli vorüberfährt. Hier in der Altstadt kennen sich die Nachbarn. Schroeder selbst wohnt in einem gemauerten alten Haus direkt gegenüber der Marienkirche. Als der Kunsthistoriker und Archäologe vor fünf Jahren nach Ortenberg zog, waren in der Kirche gerade Restaurierungsarbeiten im Gange. Dabei wurden die alten Blumenmalereien an der Decke freigelegt, Michael Schroeder schaute genau hin und wurde vom Forscherdrang gepackt.
Die Blumenmalereien in den Deckengewölben der Marienkirche wurden in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts gemalt und vor einigen Jahren restauriert. Foto: Anika Kempf/evangelisch.de
"Ich hab das erstmal abgezeichnet und mit Fotos in Pflanzenbüchern verglichen," beschreibt Schroeder seine Vorgehensweise. Nach und nach konnte er die Blumen zuordnen: "Ganz oft stand dahinter der kurze Vermerk: 'Gehört zu den Marienkräutern'. Das muss also Programm gewesen sein." Also ging seine Forschung in diese Richtung weiter: Marienkräuter. Maria wurde im katholischen Glauben des Mittelalters als "Königin der heilkräftigen Pflanzen" verehrt, eine Vorstellung, die wohl aus keltischer und germanischer Vorzeit übernommen wurde. "Wichtige Kräuter waren immer der Frauengottheit gewidmet", erklärt Schroeder.
Suche nach der "Bachbunge" war vergeblich
Eine Frauengottheit kennt das Christentum zwar nicht, wohl aber - besonders im Mittelalter - eine ausgeprägte Marienfrömmigkeit, die sich in Ortenberg auf dem berühmten "Ortenberger Altar" (um 1420) widerspiegelt: Maria ist hier inmitten ihrer Verwandtschaft in Gold- und Silbertönen dargestellt, die heilige Agnes reicht ihr als Symbol der Jungfräulichkeit eine Lilie. Links daneben eine blumenreiche Abbildung der heiligen Brigitta von Schweden und einer ihrer Visionen von der Geburt Christi: "Die Erde beginnt zu blühen, wenn Gott in die Welt eingeht."
Der berühmte "Ortenberger Altar" steht nur als Kopie in der Marienkirche, das wertvolle Original ist zurzeit im Frankfurter Städel-Museum zu sehen. Das Bild zeigt Maria mit ihrer Verwandtschaft und Blumensymbolen. Foto: Anika Kempf/evangelisch.de
Blumen sind allgegenwärtig in dieser Kirche - warum also nicht auch im Garten nebenan? Ein Wiesenstück lag dort brach. Der Historiker Michael Schroeder, die Hobbygärtnerin Friedegard Enders, der Arzt Klaus Busch und einige andere bildeten einen ökumenischen "Pflanzenausschuss" und machten sich daran, Beete anzulegen und Samen zu bestellen. Doch obwohl alle in der Kirche abgebildeten Marienkräuter in der Wetterau heimisch sind, war nicht jede Pflanze in den hiesigen Gärtnereien zu bekommen.
Friedegard Enders erinnert sich, wie sie Bachläufe abgegangen ist - auf der Suche nach den blauen Blüten der Bachbunge, und schließlich bei einem Spezialversand in Norddeutschland fündig wurde, der die seltenen Samen per Post schickte. Dann ging es ans Pflanzen - und zwar nach dem Mondkalender. "Erst war ich skeptisch, aber ich hab es ausprobiert", sagt die erfahrene Gärtnerin. Die Pflanzen würden besser Wurzeln schlagen, wenn man sie zur richtigen Zeit einsetze, ist sie überzeugt. Oft war Friedegard Enders abends und bei Regen im Garten.
Gegen Liebeskummer ist doch ein Kraut gewachsen
In der Mitte steht ein Strauch mit rosa Rosen, im Halbkreis drumherum drei trapezförmige Beete mit weiteren Marienkräutern: Der Odermenning hilft bei Entzündungen im Mund, die Königskerze wird traditionell (und in katholischen Gegenden noch heute) in die Mitte der Kräutersträuße gebunden, die man zu Mariä Himmelfahrt am 15. August herstellt. Das Kunigundenkraut soll gegen Liebeskummer wirken, die Weinraute wurde im Mittelalter für Abtreibungen verwendet.
Michael Schroeder und Friedegard Enders sind manchmal nicht einer Meinung darüber, welches "Unkraut" weg muss und welches bleiben darf. Trotzdem funktioniert die Zusammenarbeit im Kräutergarten recht gut. Foto: Anika Kempf/evangelisch.de
Routiniert erklärt Michael Schroeder die einzelnen Pflanzen und ihre volkstümlich überlieferte Wirkung. Zwischendurch pflückt er hier und da ein Blättchen ab, steckt es in den Mund und kaut darauf herum. "Achtung, die sind ziemlich bitter", warnt er. Durch das Mariengärtlein ist der Kunsthistoriker zum Kräuterexperten geworden. Auch Friedegard Enders lernt Neues dazu - zum Beispiel, dass der bittersüße Nachtschatten seinen eigenen Willen hat: Er verpflanzte sich selbst an eine andere Stelle im Beet. "Ist doch interessant", meint Enders, "dass manche Pflanzen sagen: 'Nee, neben der will ich nicht blühen!'"
Einige Stauden sind schon recht hoch gewachsen und überwuchern fast die kleinen Schieferschildchen mit ihren Namen. Ein Dachdecker im Ruhestand hat die Täfelchen zurechtgehauen, ein befreundeter Grafiker pinselte deutsche und lateinische Pflanzenbezeichnungen darauf, und eine örtliche Eisenwerkstatt lieferte Gestänge und Befestigungen. Eines der Schildchen steht einsam in einem braunen, leeren Stück Erde: Der Augentrost mag nicht aufgehen. Die Hobbygärtner sind ratlos.
Kindheitserinnerungen und Kuchenrezepte
Michael Schroeder, Klaus Busch und Friedegard Enders verbringen einen großen Teil ihrer Freizeit im Mariengärtchen, gießen, wenn es allzu heiß ist, jäten Unkraut und erklären Besuchern die Wirkungsweise der alten Heilkräuter. Über die Kinder muss Schroeder sich manchmal wundern: "Man hat das Gefühl, dass man sie in den Urwald führt", sagt er. "Die haben tatsächlich gedacht, Pfefferminze käme aus dem Beutel."
Mittlerweile ist der Marienkräutergarten zu einem beliebten Ausflugsziel geworden. Radfahrer machen hier ihre Picknick-Pause, Senioren aus dem Ort nehmen auf der Bank neben den Sträuchern Platz. Sie kennen die alten Pflanzen zum Teil noch aus ihrer Kindheit und lassen sich gern in alte Zeiten zurückversetzen: "Flachs, den hatten wir auch damals in Schlesien, die Felder waren ganz blau." Oder sie entdecken den Mohn und tauschen Kuchenrezepte aus.
Wenn die Sonne scheint, kommen auch Bienen und Hummeln aus ihren Unterschlüpfen und saugen am blühenden Salbei. Vögel picken zwischen den Stauden Würmer auf, und Schmetterlinge kommen im Pulk angeflogen, angezogen vom starken Duft der Nachtkerze, die erst abends ihre Blüten öffnet. Abends muss es besonders idyllisch sein im Marienkräutergarten. Die Bewohner des Städtchens, von denen die meisten selbst keinen Garten haben, kommen hierher. Sie reiben an den Blättern, atmen den Duft der Marienkräuter ein und betrachten den Sonnenuntergang über der Altstadt von Ortenberg.
Anne Kampf ist Redakteurin bei evangelisch.de und zuständig für die Ressorts Politik und Gesellschaft.