Morgenandacht: Im Extremfall wird aus Rufmord Mord
Gedanken zur Woche im Deutschlandfunk: Diesmal von Pfarrer Jürgen Wandel aus Berlin über Anders Breivik, den mutmaßlichen Massenmörder von Oslo, und die schleichende Entwicklung zu Mord.
29.07.2011
Von Jürgen Wandel

Auf den ersten Blick gewinnt man den Eindruck, dass Anders Breivik, der mutmaßliche Massenmörder von Oslo, verrückt ist. Die Zeitungen haben Fotos veröffentlicht, die ihn in einer Fantasieuniform zeigen, als Freimaurer verkleidet oder als Kampfschwimmer ausstaffiert. Und überhaupt, wer Menschen eiskalt ermordet, darunter Kinder und Jugendliche, kann doch nicht normal sein. Und vielleicht hat Breiviks Anwalt recht, der seinen Mandanten für geistesgestört hält. Aber das wird das Gericht klären.

Wer pauschalisiert, baut Feindbilder auf

Doch so seltsam auch ist, was Breivik im Internet von sich gegeben hat: Er hat ein klares Feindbild, den Islam. Eine deutsche Zeitung überschrieb ihren Bericht über das norwegische Massaker mit den Worten: "Ein Täter, viele Anstifter". Das heißt: Breiviks Untat ist nicht im luftleeren Raum geschehen. Denn das Feindbild Islam ist ja nicht nur unter Rechtsextremisten verbreitet, sondern auch unter "Durchschnittsbürgern". Natürlich darf man den Islam kritisieren, wie jede Religion und Weltanschauung. Und man muss auch nicht jede Religion und Weltanschauung sympathisch finden.

So kann ich damit leben, dass Leute mir die Fehler der Kirche vorhalten. Doch dabei ist mir wichtig, dass ich als Einzelner wahrgenommen und nicht mit allen Protestanten in eine Schublade geworfen werde. Ich habe mit den protestantischen Terroristen in Nordirland nichts zu schaffen und mit einem Protestanten George Bush, der Foltermethoden guthieß. Und ich wehre mich auch dagegen, dass die Bibel auf ihre blutrünstigen Stellen reduziert wird. Doch was mir recht ist, ist den Muslimen billig. Wer von den Muslimen und dem Koran spricht und wer den Islam pauschal abwertet, baut Feindbilder auf.

Die Tötung von Menschen beginnt schon vor der Tat

Worte können bekanntlich verletzten. Und im Extremfall wird aus Rufmord Mord. Daran erinnert das Matthäusevangelium (5,21-22). Dort sagt Jesus: "Ihr wisst, dass unseren Vorfahren gesagt worden ist: Morde nicht. Wer einen Mord begeht, soll vor Gericht gestellt werden. Ich aber sage euch: Schon wer auf seinen Bruder zornig ist, gehört vor Gericht. Wer aber zu seinem Bruder sagt: 'Du Idiot', der gehört vor das oberste Gericht. Und wer zu seinem Bruder sagt: 'Geh zum Teufel', der verdient, ins Feuer der Hölle geworfen zu werden." (Gute Nachricht)

Mit diesen harten Worten kritisiert Jesus nicht, dass Menschen sich gelegentlich ärgern und das auch ausdrücken. Jesus will vielmehr verdeutlichen: Die Tötung von Menschen beginnt schon lange, bevor sie in die Tat umgesetzt wird. Ja, die Entwicklung zu Mord und Massenmord beginnt meist schleichend. Das zeigt ja auch unsere Geschichte.

"Mehr Demokratie, mehr Offenheit, mehr Menschlichkeit"

"Die Juden sind unser Unglück", hat 1879 der Historiker Heinrich von Treitschke behauptet. Er ist kein Verrückter gewesen, sondern ein angesehener Professor. Treitschke war der Meinung, die Juden hätten zu viel Einfluss und forderte, sie sollten sich den Christen vollständig angleichen. Treitschke dachte nicht entfernt daran, die Juden umzubringen. Aber er trug mit dazu bei, dass sich in Deutschland ein Klima der Judenfeindschaft entwickelte. Und schließlich ermordeten Männer, die uns heute verrückt erscheinen, sechs Millionen Juden.

In den vergangenen Tagen hat mich die Würde beeindruckt, die Norweger gezeigt haben. Als Christ hat mich beschämt, was eine Jungsozialistin nach dem Massenmord im Fernsehen gesagt hat: "Wenn ein Mann so viel Hass in sich tragen kann, können wir alle zusammen viel mehr Liebe zeigen." Und als Deutsche sollten wir uns die Worte von Norwegens Ministerpräsident Jens Stoltenberg zu Eigen machen: "Unsere Antwort lautet: mehr Demokratie, mehr Offenheit, mehr Menschlichkeit."


Jürgen Wandel ist Pfarrer in Berlin. Bei dem vorstehenden Text handelt es sich um die "Gedanken zur Woche", die der Deutschlandfunk am frühen Freitagmorgen, 29. Juli, gesendet hat.