Ich legte meine weiβen Lilien neben rote Rosen, Kerzen und handgeschriebene Zettel. Nachher trug ich meinen Namen in das Kondolenzbuch der Norwegischen Botschaft in Berlin ein. Endlich hatte ich das Gefühl, etwas getan zu haben. Als Deutscher, der in Norwegen geboren und aufgewachsen ist, bin ich so norwegisch, wie man ohne norwegischen Pass sein kann.
Deshalb wollte und konnte ich nicht glauben, was mir die Nachrichtensprecher am Freitagnachmittag vermittelten. Eine Bombe in Oslo? Und ein Mann, der im traditionsreichen Feriencamp der norwegischen Arbeiterpartei ein regelrechtes Massaker begangen hatte? Meine erste Reaktion war nicht Schmerz, nicht Trauer, nicht Empörtheit, nicht Zorn. Meine erste Reaktion war Fassungslosigkeit. Diesmal war es in Norwegen und nicht irgendwo anders passiert. Die Einschätzung, dass es den anderen, aber nicht einen selber trifft, war fehlgeschlagen.
Die Trauer kam mit voller Kraft dazu
Ich glaube, dass Fassungslosigkeit auch das dominierende Gefühl der Norweger in den ersten 24 Stunden war. In der chaotischen Zeit nach dem Doppelattentat haben sich alle nur gefragt, ob es wirklich so schlimm sein könnte, wie die ersten Medienberichte es schilderten. Als ich am Freitagabend mit meinen norwegischen Freunden über die Geschehnisse gesprochen habe, konnten wir gar nicht so viel reden. Uns fehlten die Worte. Immer wieder fielen Sätze wie: "Ich verstehe es einfach nicht."
Während dieser Gespräche hatte ich oft das Gefühl, an der falschen Stelle zu sein. Ich wollte in Norwegen sein, um meine Sympathie zu zeigen und zusammen mit Freunden und Familie diese Tragödie zu bearbeiten. In Deutschland fühlte ich mich merkwürdig abgeschnitten, als man im Fernsehen über "die Norweger" berichtete. Andererseits ist mir auch einiges erspart worden. Ich hatte nicht die Möglichkeit, das ganze Wochenende lang mit Nachrichten aus Oslo zu verbringen. Ich konnte nicht stundenlang leicht apathisch vor dem Fernseher sitzenbleiben, gefesselt von der endlosen Reihe tragischer Schicksale.
Am Samstag, als die Zahl der Toten plötzlich von 20 auf 80 korrigiert wurde, erreichte die Fassungslosigkeit ihren Höhepunkt. Allerdings war sie nicht mehr alleine. Die Trauer war mit voller Kraft dazugekommen. Sie zeigte sich durch tausende Status-Updates auf Facebook, als die "vernetzte" Generation - die durch den Anschlag auf Utøya ja besonders berührt war - ihr Mitgefühl aussprach. Sie zeigte sich durch Aufrufe zum Zusammenhalt, zu mehr Demokratie, zu Liebe und nicht Hass. Sie zeigte sich durch die hunderttausenden von Menschen, die in den Straβen Norwegens Blumen niedergelegt haben.
Die Anschläge haben das Land stark verunsichert
Die Gefühle zu beschreiben, die im Augenblick in Norwegen herrschen, ist nicht einfach. Ganz leicht gerät man in die Kategorie der pompösen und groβen Worte. So auch in deutschen Medien, wo die Norweger auffallend oft als aufgeschlossene, liberale Menschen beschrieben worden sind. Die ersten Reaktionen der norwegischen Bevölkerung bestätigen in gewisser Weise dieses Bild. Den Attentaten folgten keine Aufrufe für strengere Kontrollen und mehr Überwachung. Stattdessen wurde immer wieder gesagt, dass die Antwort auf die Gräueltaten mehr Demokratie, mehr Zusammenhalt und mehr Offenheit sei.
Diese Haltung wurde nicht nur von der Regierung vertreten, sondern auch von zahllosen Kommentaren in der "social media". Auch bei der Polizei scheint die Ansicht, dass man sich gegen verrückte Individuen durch mehr Überwachung völlig versichern kann, keine Unterstützung zu finden. So sagte zum Beispiel ein Repräsentant der Polizei, dass nicht einmal eine Überwachungsstruktur, die der der Stasi gleichkäme, die Anschläge hätte verhindern können. Der norwegische Staat hat stets die Freiheit der Überwachung, die in keinem Falle volle Sicherheit geben kann, vorgezogen. Wenn man sich die Reaktionen der norwegischen Bürger und Politiker nach dem Anschlag anhört, scheint es, als würde diese Einschätzung weiterhin breite Unterstützung finden.
Jedoch sind Norweger auch nur Menschen, und die Anschläge haben ein Land, das sich vorher seiner eigenen Sicherheit sicher war, stark verunsichert. Obwohl im Augenblick die Stimmung noch keine richtige Debatte zum Thema erlaubt, ist es nicht auszuschlieβen, dass in den nächsten Monaten auch in Norwegen über strengere Sicherheitsmaβnahmen diskutiert wird. Ich glaube, und hoffe jedoch, dass in einer solchen Debatte die Unterstützung für die liberale und offene Gesellschaft bestehen wird. Nur indem Norwegen weiterhin offen und liberal bleibt, kann man denen, die sich des Terrors bedienen, zeigen, dass die Gesellschaft sich nicht ihrem Willen fügt.
Andreas Hansen (20) wuchs mit seiner deutschen Familie in der nordnorwegischen Stadt Tromsø auf. Nach dem Abitur verbrachte er einige Monate in Kamerun, seit einem Jahr studiert er Internationale Beziehungen an der London School of Economics. Zurzeit macht er ein Praktikum am Institute for Cultural Diplomacy in Berlin.