Von den Zerstörungen im Regierungsviertel bis zum Tinghuset, dem Gericht von Oslo, sind es nur wenige Schritte. Hier soll der geständige Täter Anders Behring Breivik am Montag Antworten auf die Fragen geben, die nicht nur Norwegen bewegen. Aber kann die Justiz einen Beitrag leisten zum Verständnis der unfassbaren Tat, die 93 Menschen das Leben gekostet und das ganze Land schwer traumatisiert hat?
"Ich glaube nicht, dass es eine Erklärung dafür geben kann", sagt Geir Flikke, der vor Beginn seiner Arbeit im Institut für Internationale Beziehungen in Oslo zur Domkirche gekommen ist. Sein Blick auf das Blumen- und Kerzenmeer vor der Kirche ist voller Trauer. "Das ganze Land trauert, aber Norwegen ist stark genug, dass es darüber hinwegkommen wird."
Als "grausam, aber notwendig", hat Breivik seine Tat bezeichnet. In seinem Facebook-Profil hat er unter religiöse Ansichten angegeben: "Christ". Fünf Tage vor dem Bombenanschlag in Oslo und dem Überfall auf das Sommercamp auf der Insel Utøya schrieb er im Internet-Dienst Twitter auf Englisch: "Eine Person mit einer Überzeugung ist gleich einer Streitmacht von 100.000, die nur Interessen haben." Mehr als 100 andere haben diese Aussage retweetet. In einem im Internet veröffentlichten Manifest des Täters heißt es, er wolle Europa vor "Marxismus und Islamisierung" retten.
Ein konservativer Krieg gegen die "Kulturmarxisten"
Der Terrorexperte Helge Lurås vom Norwegischen Institut für Auslandspolitik hat sich das Manifest angesehen. Es werde deutlich, dass Breivik an eine geheime europäische Verschwörung von Frankreich und anderen großen Ländern glaube, die eine Allianz zwischen Europa und dem Islam schaffen wollten. "Als Alliierten im Kampf gegen den Islam sieht er dagegen Israel", erläuterte Lurås.
Breivik zeige sich in seinem mehr als 1.500 Seiten umfassenden Manuskript ganz klar als "ethnischer Nationalist", auch wenn er ein Gegner des Nationalsozialismus sei, sagte Lurås. Er beschreibe einen Zivilisationskonflikt zwischen ethnischen Europäern und islamischen Einwanderern. Dabei greife er die Europäische Union deutlich an. Als Vorbilder sieht Breivik hingegen dagegen Länder wie Südkorea, Japan und Taiwan, erklärte Lurås. Sie seien Beispiele für Gesellschaften mit westlicher Prägung, die sehr bewusst monokulturell geblieben seien.
Außerdem glaube der Attentäter, dass der Kommunismus in der multikulturellen Gesellschaft weiterlebe. Im zweiten Teil seines Manifests formuliert er dann seine Erwartung sehr deutlich: nämlich dass konservative Nationalisten in einem internen Krieg in Europa die muslimischen Einwanderer vertreiben.
"Die Grundfrage, ob wir ein multikulturelles Land sein wollen"
Breivik wird in der Öffentlichkeit als konservativer Christ dargestellt - das sei dem Manuskript zufolge aber nicht korrekt, meinte Lurås. "Er sagt selbst, dass er nicht gläubig ist, nicht an den christlichen Gott glaubt." Das kulturelle Element des Christentums aber halte der Attentäter für einen fundamentalen Teil der europäischen Identität. Breivik selbst sehe sich nicht als Terroristen, sondern als politisch motivierten Kämpfer, der seinen Hauptfeind – die "Kulturmarxisten" – angegriffen habe, ohne eine Straftat zu begehen.
Camilla Sandman ist Mitglied der sozialdemokratischen Jugendorganisation AUF, war in früheren Jahren auch im Sommercamp auf Utøya dabei gewesen und lebt in der Nähe der Insel. Am Montag ist sie nach Oslo gekommen, um zu trauern - aber auch um zum Tinghuset zu laufen und vielleicht einen Blick auf den Täter zu werfen - "einfach um zu sehen, ob er ein Mensch ist". Sie halte ihn für intelligent und rational, nicht für geistig verwirrt. Aber er lebe offenbar in einer ganz eigenen Welt - "und letztlich will ich das gar nicht verstehen".
Warum hat er ausgerechnet das Sommercamp der Jugendlichen angegriffen? "Das sind die Jungen, das sind die künftigen Führer der Partei und des Landes", antwortet die 31-Jährige. "Und wir unterstützen die Idee einer multikulturellen Gesellschaft." Norwegen sei ein kleines Land und stehe vor der Grundfrage, "ob wir ein multikulturelles Land sein wollen oder ein norwegisches Land mit hier lebenden Ausländern."
Trauer in der ganzen Stadt
Nach der ersten Schockstarre hat Norwegen mit der Trauerarbeit begonnen. Überall in der Stadt, am Rand der zum Königsschloss führenden Karl Johans Gate, vor der Kirche St. Olavs, oder an den immer noch von Soldaten gesicherten Absperrungen legen Anwohner Blumen und Kerzen nieder. Vor der Absperrung zu der fensterlosen Fassade des Regierungsgebäudes steht am Montag eine junge Frau mit einer weißen Rose in der Hand, minutenlang, die Tränen laufen ihr übers Gesicht.
Vor der Domkirche sind bis weit nach Mitternacht die Menschen zusammengekommen. "Dieser Ort kommt einem Mahnmal am nächsten", sagt Camilla Sandman. Sie ist mit ihrer Mutter durch die Straßen gelaufen, zusammen haben sie sich die Zerstörungen angeschaut. "Das hilft in einer gewissen Weise, darüber hinwegzukommen. Aber wir fühlen uns immer noch wie in einem Film, nicht wie in der Realität."
Ihre Mutter habe bei der Explosion sehr viel Glück gehabt, erzählt die junge Frau. "Sie arbeitet in einem der Gebäude, das getroffen wurde. Aber am Freitag hat sie schon eher Schluss gemacht, weil sie im Fernsehen die Tour de France sehen wollte."