"Wo warst du?" Gott, das Leid und die Allmacht
"Großer Gott, steh uns bei!" Diese Schlagzeile nach den Terroranschlägen von New York und Washington war vielen Menschen aus dem Herzen gesprochen. Ähnliche Gefühle gibt es angesichts des unfassbaren Massakers in Norwegen. Ein Stoßgebet, wie es eindrücklicher nicht sein kann. "Wo warst du, Gott?" So lautet die verzweifelte Frage der Menschen, die Gottes Eingreifen in der Not erwartet hätten. Doch kann man an seine Allmacht heute noch glauben?
25.07.2011
Von Eduard Kopp und Bernd Buchner

Trauer und Entsetzen sind in diesen Tagen in Norwegen unermesslich. Und nicht nur dort: In der ganzen Welt herrscht Fassungslosigkeit über den Doppelanschlag von Oslo und der Insel Utøya. Der evangelische Dom in Oslo ist zu einem wichtigen Ort der Trauer geworden. Menschen kommen hierher, um Blumen niederzulegen, Gebete für die Opfer zu sprechen und sich auszutauschen über das Unbegreifliche. "Wie kann Gott so etwas zulassen", ist dabei eine oft gestellte Frage.

Sie wird bei jeder Katastrophe gestellt. "Wo warst du, lieber Gott, in Eschede?" So hatte ein Boulevardblatt im Juni 1998 getitelt, nachdem der ICE Wilhelm Conrad Röntgen bei Eschede 101 Menschen in den Tod gerissen hatte. Fahrgäste, die damals in den vorderen Wagen fast unverletzt überlebten, sagten den Journalisten später: "Gott hat mich vor dem Tod bewahrt." Die Angehörigen derer, die in den Trümmern der Wagen zu Tode kamen, hingegen fragten sich verzweifelt: "Warum hat Gott uns dies angetan? Warum hat er diese Katastrophe nicht verhindert? Konnte er nicht in letzter Minute die Notbremse ziehen?"

"Wo warst du, Gott?" - "Gott, steh uns bei!" Das sind zwei ganz und gar unterschiedliche Weisen, mit einer Katastrophe umzugehen: hier die quälende Frage nach der Allmacht Gottes ("Warum lässt ein liebender, allmächtiger Gott diese Katastrophen zu?"), dort ein vertrauensvolles Gebet. Hier ein philosophisches, logisch letztlich unlösbares Problem, dort ein Bekenntnis. Die Weise, wie Kirche und Öffentlichkeit das Inferno von New York und Washington zu bewältigen suchen, zeigt die Stärke des zweiten Weges: "Du wirst alle Tränen von den Augen abwischen", zitierte Bischöfin Margot Käßmann.

Glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen

Und angesichts der aus den Hochhäusern stürzenden Menschen drückte Bischof Wolfgang Huber die tiefe Hoffnung aus, dass wir Menschen "nicht tiefer fallen können als in Gottes Hand". Still ist es in diesen Wochen um die komplizierte Allmachtstheologie. Und dennoch: Alle christlichen Glaubensbekenntnisse formulieren, dass Gott allmächtig ist. Die Worte im Apostolischen Credo lauten: "Ich glaube an Gott den Vater, den Allmächtigen, Schöpfer des Himmels und der Erde."

Eine schwere theologische Bürde, weshalb die Suche nach Neuformulierungen voll im Gange ist. Seit dem Deutschen Evangelischen Kirchentag 1999 in Stuttgart ist der Streit über das Bekenntnis zur Allmacht Gottes nicht zur Ruhe gekommen. Damals beteten die Protestanten ersatzweise: "Ich glaube an Gott, der die Liebe ist..." Doch inzwischen ist klar: Das heikle, den Juden und Muslimen wichtige Bekenntnis zu Gottes Allmacht lässt sich nicht einfach wegwischen.

Unerträgliche logische Widersprüche

Sicherlich hatte dies seine große historische Bedeutung zur Abgrenzung von anderen Religionen und Denkströmungen der Antike. Es diente als Stütze für den Monotheismus, den Glauben an einen einzigen Gott, gegen die unordentlichen Verhältnisse im griechischen und römischen Götterhimmel, wo etliche höhere Wesen gegeneinander kämpften. Doch für die Menschen der Moderne enthält die Vorstellung von Gottes Allmacht zu viele unerträgliche logische Widersprüche.

Dass Gott für ein von Menschen verursachtes Unglück direkt verantwortlich ist, lässt sich zumindest logisch ausschließen. Gott hat nach biblischem Bekunden eindeutig freie Menschen erschaffen. Warum und wie sollte er sie dann lenken wollen, ihre Eigenverantwortung durchkreuzen?

Die Logik versagt allerdings kläglich, wenn Menschen wahllos und ungerecht zu Opfern werden. "Warum gerade ich?" - diese Frage ist prinzipiell nicht mit Logeleien, sondern nur mit Handeln zu beantworten: durch Hilfe, Zuneigung, Trost.

„Alle Dinge sind möglich bei Gott"

Gottes Allmacht ist im Neuen Testament (anders als im Alten) kein zentraler Begriff. Das kennt zurückhaltendere Formeln, zum Beispiel diese: "Alle Dinge sind möglich bei Gott" (Markus 10, 27). Dreh- und Angelpunkt des christlichen Glaubens ist etwas anderes als die Omnipotenz: Dieser Gott ist in seinem Sohn verfolgt, verurteilt, gekreuzigt worden - aus Liebe zu den Menschen. Die Nähe zum Menschen, nicht die Herrschaft über ihn: Das ist seine Dimension.

Hans Jonas, jüdischer Philosoph und Autor, dessen Mutter im KZ getötet wurde, zog 1984 eine harte Konsequenz aus dem millionenfachen Judenmord im Holocaust. Er strich ein für alle Mal die Allmacht Gottes aus seinem Denken. Viele Christen halten gleichwohl an ihr fest. Anderen sind die Prinzipien der Liebe, des Vertrauens und der Geborgenheit für ihr Leben wichtiger.


Religion für Einsteiger ist eine Serie im evangelischen Monatsmagazin chrismon, in der Theologen einfache Fragen zur Religion einfach beantworten. Die gesamte Serie gibt es natürlich im gedruckten Magazin, aber auch auf der Internetseite von chrismon.