Herr Bermbach, die diesjährigen Wagner-Festspiele werden mit dem "Tannhäuser" eröffnet. Darin gibt es eine Pilgerfahrt zum Papst in Rom samt Wunder und Erlösung. Warum greift Richard Wagner in seinen Opern immer wieder auf christliche Motive zurück?
Bermbach: Zum einen gehört das Christentum zum kulturellen Grundbestand Europas, und nicht nur die deutsche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, sondern auch die aller anderen europäischen Staaten verstanden sich als christlich, unabhängig von jeweils vorherrschenden Konfessionen. Zum anderen war Wagner ein Denker, der revolutionäre Veränderungen wollte, und der ein Leben lang nach Veränderung strebte, auch nach "Erlösung" . Und "Erlösung" kann man bei Wagner auch als Hoffnung auf eine radikale Veränderung des Gegebenen verstehen. Deshalb greift er in seinen Musikdramen unter anderem auf das Christentum zurück, weil dieses eine Religion der Erlösung ist und zugleich Rituale und Liturgien bereitstellt, die den Menschen vertraut sind, die den Status quo transzendieren.
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"Für Wagner war Jesus nicht so
sehr der Gottessohn, sondern ein
Revolutionär, der gegen die Gesetze
und für eine Liebesethik eintritt."
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In seiner revolutionären Zeit war Wagner auch von der Figur Jesu von Nazareth begeistert, wie ein Opernentwurf aus dem Jahr 1848 zeigt. Das Staatskirchentum seiner Zeit hat er aber radikal abgelehnt. Warum?
Bermbach: Wagner war von Anfang an ein Anti-Institutionalist und ist das auch ein ganzes Leben lang geblieben, was meistens aber nicht zur Kenntnis genommen wird. Er hat Institutionen, die auf Dauer eingerichtet sind und feste Regeln und Rituale ausbilden, immer abgelehnt. Es ist kein Zufall, dass er in Dresden ein Jahr lang sehr eng mit dem russischen Anarchisten Michail Bakunin befreundet war. Die bakunistische Verneinung des Staates, die bakunistische Ablehnung fester Regeln und einer geordneten Gesellschaft hat er völkig geteilt. In Wagners Schriften finden sich immer wieder Sätze und Überlegungen, die dies bekräftigen. Aus heutiger Sicht hat er ein Gesellschaftskonzept vertreten, das strukturelle Ähnlichkeiten mit Bürgerbewegungen hat; man könnte von Netzwerken sprechen, die sich je nach Aufgabenstellung bilden, auflösen und wieder neu konstituieren. Aus seinem anti-institutionellen Vorbehalt resultiert auch die Ablehnung einer festen kirchlichen Organisation, weil er hier Dogmatisierung befürchtete. In dem Opernentwurf, den Sie erwähnten, erscheint Jesus weniger als Gottessohn denn als großer Revolutionär, der gegen die Gesetze aufruft und eine Liebesethik verkündet. Bei Wagner will Jesus die Veränderung des sozialen Lebens und der gesellschaftlichen Bedingungen . Das hat natürlich auch autobiographische Aspekte.
Bürgerbewegungen, Vernetzungen – das klingt sehr modern. Modern ist auch, dass sich der Komponist eine Privatreligion zurechtgelegt hat, in der auch buddhistische und andere Vorstellungen auftauchen. War Wagner seiner Zeit voraus?
Bermbach: Ich glaube schon. Es gibt am Ende der Schrift "Das Kunstwerk der Zukunft" einen ganzen Absatz, in dem er auf Zeit gebildete, genossenschaftlich struturierte Organisationen für die Kunst befürwortet - "künstlerische Genossenschaften" - und diese zugleich als Vorbild für Gesellschaft und Politik beschreibt. Diese Vorstellung stimmt sehr stark mit den konzeptionellen Ideen vieler Anarchisten überein. Wagners Affekt war in dieser Hinsicht - denken Sie an die heute diskutierte "Ziviligesellschaft" - außerordentlich modern und stand zumal nach 1871, als im Deutschen Reich starke zentrale Institutionen ausgebildet wurden, völlig gegen den Zeitgeist. Doch genau das haben die meisten Wagnerianer und vor allem die Bayreuthianer immer ignoriert und zur Seite geschoben worden. Man hat sich da einen eigenen Wagner zurecht gezimmert.
Zur Bayreuther Ideologie, die sich nach Wagners Tod herausbildete, gehört auch eine "Bayreuther Theologie". Wodurch war diese gekennzeichnet?
Bermbach: Das war eine reduzierte Christologie. Es ging Wagner um die Frage, die auch die protestantische Theologie spätestens seit Schleiermacher beschäftigt hat: Wer war Jesus, inwieweit war er Gottes Sohn, inwieweit war er Mensch? In Anlehnung an die großen theologischen Aufklärer wie etwa David Friedrich Strauß nahm Wagner für sich eine radikale Kritik an der Person Jesu aus historischer Perspektive vor. Am Ende blieb für ihn, dass Jesus ein großer, vorbildlicher Mensch von vollkommener Natur war, dessen Göttlichkeit gerade in seiner vollkomenen Menschlichkeit bestand, in seiner Fähigkeit, mitzuleiden und so die Menschen zu erlösen. In der Vollkommenheit von Jesu Natur liegt für Wagner - und auch für seine Erbe-Verwalter - das göttliche Moment, und dies haben wir in uns aufzunehmen, nach diesem Vorbild sollten wir leben. Eine wirklich stark reduzierte "Theologie", wenn man das überhaupt so nennen kann, aber mehr brauchte Wagner nicht. Er hat das dann später mit Elementen des Buddhismus angereichert.
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"Ein erheblicher Teil seines
Antisemitismus erklärt sich
aus Wagners konfrontativem
Verständnis von Religion."
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Bildete diese Art von Christologie auch den Hintergrund für Wagners Antisemitismus?
Bermbach: Insofern ja, als er sich - wie andere im Bayreuther Umfeld auch - gefragt hat, ob Jesus ein Jude war . Die Frage war nicht originell, sie wurde auch von anderen Theologen des 19. Jahrhunderts gestellt, aber für das Bayreuther Denken war sie zentral. Wagner war in seiner Antwort eher unentschieden. Klar war für ihn, dass das Alte Testament den jüdischen Gesetzesglauben widerspiegelt: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Der jüdische Jehowa war also ein Gott der Rache und der Vergeltung. Für Wagner war Jesus mit seiner Liebesreligion das genaue Gegenteil dieses jüdischen Gottes, und deshalb glaubte er, dass Jesus kein Jude gewesen sein könne. Ein erheblicher Teil seines Antisemitismus erklärt sich aus diesem konfrontativen Religionsverständnis.
Wie ging das nach Wagners Tod weiter?
Bermbach: Man kann zunächst zeigen, dass diese "Theologie" vor allem durch Houston Stewart Chamberlain und Hans Wolzogen, die zu den intellektuellen Köpfen des Bayreuther Kreises zählten, noch zugespitzt wurde. Chamberlain stellte in den berüchtigten "Grundlagen des 19. Jahrhunderts" die These auf, Galiläa sei gar kein Teil des jüdischen Staates und Jesus damit kein Jude gewesen. Außerdem habe er Aramäisch gesprochen und nicht Hebräisch. Die Verbindung der christlichen Liebesethik mit dem, was die Bayreuther unter National verstanden, führte in der Konsequenz zu einem nationalen, antikirchlichen Protestantismus. Für Chamberlain etwa reicht es, wenn Christen sich versammeln, zusammen beten und an Christus als großes Vorbild und göttlichen Menschen glauben, um die Gesellschaft als christliche zu verstehen.
Wie stark schätzen Sie den Einfluss der "Bayreuther Theologie" auf die NS-gläubigen Deutschen Christen ein, die den arischen Jesus propagierten und das Alte Testament als jüdisch brandmarkten?
Bermbach: Da gibt es eine direkte Linie von dieser Art eines "abgespeckten" nationalen Protestantismus zu den Deutschen Christen des Dritten Reiches, die ihrereseits allerdings die Bayreuther Vorgaben nochmals radikalisiert haben. Im übrigen hat dies alles noch einen zweiten Kontext: Chamberlain wollte mit seinem deutschen Protestantismus auch den Begriff der deutschen Nation inhaltlich so profilieren, dass er abgrenzende Wirkung gegenüber dem Nationalverständnis anderer Völker haben sollte. Politisch hatte das unter anderem den Sinn, den Deutschen in ihrem Nationalcharakter einen Missionsauftrag zuzusprechen und den Kulturgedanken, der in Bayreuth ja höchst lebendig war, in einem ganz eigenen Sinne christlich zu unterfüttern.
[listbox:title=Mehr im Netz[Die Richard-Wagner-Festspiele im Netz##Aktuelle Infos der Bayreuther Lokalzeitung "Nordbayerischer Kurier"##Internetauftritt des Wagnerforschers Udo Bermbach]]Nach dem Zweiten Weltkrieg stand Bayreuth im Zeichen der Entpolitisierung, Ideologie und Religion spielten formal keine Rolle mehr. War das ernst gemeint?
Bermbach: Das ist ein komplexes Feld. Auf der einen Seite haben in den Bayreuther Programmheften, die von der Festspielleitung herausgegeben wurden, die selben Autoren wie schon zwischen 1933 und 1945 geschrieben. Das waren überzeugte Nationalsozialisten, die jetzt statt Propaganda allgemeine, politisch unverfängliche Themen wie die Verbindung von "Ring" und Orestie oder die Griechenrezeption bei Wagner behandelten. Auf der anderen Seite gab es auf dem Grünen Hügel einen Neuanfang vor allem im ästhetischen Bereich. Wieland Wagner versuchte, die politische Vergangenheit vor allem ästhetisch zu bewältigen. Doch diese "Bewältigung" hatte noch einen sehr banalen Grund: es fehlte schlicht das Geld, um große Bühnenbilder zu bauen. Was das Publikum betrifft, so ist dessen Entnazifizierung nicht so eindeutig zu konstatieren. Denn es gab auch hier personelle Kontinuitäten. Vielleicht läßt sich das alles auf die Formel bringen: Es gab weder in der Bundesrepublik noch in Bayreuth eine Stunde Null. Die Vorstellung, dass 1951 mit der Wiedereröffnung der Festspiele alles anders war, ist historisch unhaltbar.
Die Festspiele sind in erster Linie ein Schauplatz der Kunst, zugleich aber ein Weiheort und Religionsersatz. Wie soll man mit diesem Gegensatz umgehen?
Bermbach: Ich glaube, dass es diesen Gegensatz so heute nicht mehr gibt, den gab es in der Vergangenheit, im Kaiserreich, der Weimarere Republik und noch im "Dritten Reich". Anfang des 20. Jahrhunderts war die Rede vom "Tempel Bayreuth" eine gängige Rede. Vor allem mit Bezug auf den "Parsifal" sind die Festspiele oft genug als Gottesdienstersatz verstanden worden. Protestantische Geistliche haben über Parsifal gepredigt, wollten Teile des Stückes in ihre Gottesdienste integrieren, glaubten sogar, der Besuch einer Parsifal-Aufführung ersetze den Gottesdienst. Das alles ist gut dokumentiert. Und es hat zu tun mit dem Komplex der "Kunstreligion", die sich aus der Romantik herleitet und von Wagner in einem bestimmten Sinne gebraucht worden ist. Doch das alles ist mit 1945 vorbei, das Festspielhaus ist kein Weihetempel mehr, die Festspiele sind kein Religionsersatz - sondern eben Festspiele.
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"Angela Merkel ist wirklich eine
Wagner-Liebhaberin und sie liebt
diese Musik. Es ist völlig normal,
wenn sie nach Bayreuth geht."
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Sieht das Publikum das auch so?
Bermbach: Wenn man den soziologischen Untersuchungen glauben darf, hat sich die Besucherstruktur in Bayreuth spätestens nach dem Chéreau-"Ring" von 1976 der allgemeinen Bevölkerungsstruktur angeglichen. Befragungen und Erhebungen haben ergeben, dass die Festspielbesucher in ihren politischen Präferenzen ungefähr den in der deutschen Gesellschaft ingesamt vorherrschenden politischen Präferenzen entsprechen. Es gibt nur einen signifikanten Unterschied: im Bildungsgrad, der in Bayreuth überdurchschnittlich hoch ist.
Bei der Eröffnung am Montag wird auch Kanzlerin Angela Merkel wieder dabei sein. Richard Wagners Urenkelin Nike Wagner hat vor kurzem kritisiert, Merkel würde Bayreuth zu unkritisch sehen und die prekären historischen Aspekte nicht genügend berücksichtigen.
Bermbach: Ich weiß nicht, wie Nike Wagner sich das vorstellt. Soll die Kanzlerin, bevor sie ins Festspielhaus geht, sagen: Ich bin mir bewusst, einen Ort zu betreten, der historisch belastet ist? Ich kann mit diesem Vorwurf nichts anfangen. Als ich an Jürgen Flimms Bayreuther Jahrtausend-"Ring" mitwirkte, lernte ich Frau Merkel kennen und sprach in den Jahren danach immer wieder mit ihr. Sie ist wirklich eine Wagner-Liebhaberin und sie liebt diese Musik. Wenn das so ist, dann ist es völlig normal, wenn sie, wie jeder andere auch, nach Bayreuth geht. Sie muss da nicht vorher ein Bekenntnis ablegen, aus dem ihre historische Informiertheit hervorgeht.
Prof. Dr. Udo Bermbach, Jahrgang 1938, war von 1971 bis 2001 Professor für politische Wissenschaft an der Universität Hamburg. Er zählt zu den wichtigsten Wagnerforschern in Deutschland und gründete 2005 die Zeitschrift "wagnerspectrum", deren Mitherausgeber er seither ist. Vor kurzem erschien im Metzler-Verlag Bermbachs Buch "Richard Wagner in Deutschland. Rezeption-Verfälschungen". Es ist der dritte und abschließende Band einer umfassenden Betrachtung zur künstlerischen und politischen Wirkungsgeschichte des Komponisten.