Norwegen trauert um mindestens 92 Menschen
Grauen im friedlichen Norwegen: Ein mutmaßlicher Rechtsradikaler soll mehr als 90 Menschen kaltblütig ermordet haben. Erst zündete er mitten in Oslo eine Bombe, dann massakrierte er wehrlose Jugendliche. Das Blutbad auf einer winzigen Insel soll 90 Minuten gedauert haben.

Aus dem Nichts hat der Massenmord eines vermutlich Rechtsradikalen an mindestens 92 Menschen das friedliche Norwegen mitten in den Sommerferien erschüttert. Die meisten Opfer, die bei einem Blutbad in einem Zeltlager auf der Insel Utøya und einem Bombenanschlag in Oslo zu Tode kamen, waren noch Jugendliche. Der mutmaßliche Täter Anders B. wurde festgenommen. Er ist Norweger und soll Kontakte in die rechte Szene haben. Ob er allein gehandelt hat, war zunächst offen. Der 32-Jährige legte ein Teilgeständnis ab. "Er hat gestanden, dass er auf Utøya war und Schüsse abgefeuert hat", sagte Oslos Vize-Polizeichef Sveinung Sponheim am Samstagabend. Die Beamten fürchten, dass noch nicht alle Todesopfer entdeckt sind.

Die wehrlosen jungen Leute im Ferienlager der sozialdemokratischen Jugendorganisation AUF waren dem Täter völlig arglos begegnet. Er trug eine falsche Polizeiuniform. Als er auf die Teenager traf, hatten diese sich gerade versammelt, um mehr über den Anschlag zu erfahren, der nur kurz zuvor die nahe Hauptstadt erschüttert hatte.

Bild links: Ministerpräsident Jens Stoltenberg steht das Entsetzen ins Gesicht geschrieben, als er am Freitag die Presse informiert (Foto: dpa/Aleksander Andersen)

Das Massaker auf der Insel hat Polizeiangaben zufolge etwa anderthalb Stunden gedauert. Der 32 Jahre alte Verdächtige soll gezielt auf die Teilnehmer des Camps geschossen haben. Erst dann gelang es der Polizei, den Mann zu überwältigen. Nach Polizeiangaben stellte sich der Mann freiwillig den Beamten.

Es kann weitere Tote geben

Nach den bisherigen Erkenntnissen hatte Anders B. zuvor mit einem Bombenanschlag auf das Regierungsviertel in Oslo das Land in Angst versetzt. Beobachter vermuteten zunächst einen islamistischen Anschlag. Vorläufige Bilanz: Sieben Tote in Oslo und 85 auf der Insel. Die Behörden schließen weitere Opfer nicht aus. "Wir wissen, dass es noch Überreste von Toten in den Osloer Ruinen gibt. Das Ganze ist ein Puzzlespiel", sagte Polizeisprecher Sponheim. Außerdem wurden zunächst noch mehrere Jugendliche von der Insel vermisst.

Augenzeugen schilderten das schrecklichen Geschehen im Camp. "Ich hab ihn nicht gesehen, aber gehört. Er schrie und jubelte und gab mehrere Siegesrufe von sich", berichtete die 22-jährige Nicoline Bjerge Schie in der Online-Ausgabe der Zeitung "Dagbladet". Die junge Frau hatte sich mit Freunden hinter einem Felsen am Wasser versteckt.

Erst am Samstagmorgen wurde sich Norwegen der ungeheuerlichen Dimension des Geschehens bewusst. Am Freitagabend war zunächst bekanntgeworden, dass rund zehn Menschen ums Leben gekommen waren. Dann sprachen die Behörden plötzlich von mehr als 80 Opfern, und im Laufe des Samstags zählte die Polizei immer mehr Leichen in den Gewässern rund um die nur 400 Meter breite Ferieninsel Utøya.

Das Paradies wurde zur Hölle

In verzweifelter Todesangst hatten sich viele Jugendliche in das kalte Wasser geflüchtet. Das nächste Ufer ist rund 700 Meter von der Insel entfernt. Auch im Wasser feuerte der Schütze auf die wehrlosen, panischen Opfer. Teenager, die verletzt am Boden lagen, soll er mit Kopfschüssen regelrecht hingerichtet haben.

Der Doppelanschlag löste weltweit Entsetzen aus. Ministerpräsident Jens Stoltenberg sprach von der schlimmsten Katastrophe Norwegens seit dem Zweiten Weltkrieg. Er kennt die Insel aus seiner eigenen Teenagerzeit: "Utøya war das Paradies meiner Jugend. Gestern wurde es in eine Hölle verwandelt." Norwegens König Harald V. sprach von einem "Angriff auf unsere Gesellschaft und unsere Demokratie".

Die Hinweise auf einen möglichen Komplizen blieben bis zum Samstagabend vage. "Wir haben mehrere übereinstimmende Zeugenaussagen, wonach es einen zweiten Täter geben soll. Wir arbeiten mit Hochdruck daran, das aufzuklären", sagte Kriposprecher Einar Aas der Online-Ausgabe der Zeitung "Verdens Gang". Der sozialdemokratische Jugendfunktionär Adrian Pracon, der das Attentat verletzt überlebte, sprach von einem Missverständnis. Im Gespräch mit der Nachrichtenagentur dpa erklärte er, es habe Schüsse vom Seeufer gegeben. Diese seien aber auf den Attentäter abgegeben worden, um ihn zu stoppen.

"Christlich-fundamentalistisch" und in der rechten Szene

Pracon sagte, auf ihn habe der Täter ruhig und kontrolliert gewirkt. Er selbst sei von einer Kugel an der Schulter getroffen worden. Anschließend habe er sich in den See geflüchtet, als Anders B. am Ufer auftauchte und erneut auf ihn zielte. "Ich flehte ihn an und er verschonte mich", schilderte der Jugendfunktionär die Begegnung.

Bild links: Der mutmaßliche Täter (Screenshot von Facebook; sein Profil wurde inzwischen gelöscht), Foto: dpa

Der Verdächtige wird der rechten Szene zugeordnet und ist laut Polizei "christlich-fundamentalistisch" orientiert. Anders B. hat sich nach Berichten aus Stockholm auch bei einem schwedischen Internet-Forum für Neonazis registriert. Wie die schwedische Organisation Expo am Samstag angab, war der 32-Jährige seit 2009 in dem Forum "Nordisk" aktiv. Hier diskutierten 22 000 registrierte Nutzer Themen wie "weiße arische Macht" und politische Strategien zur Bekämpfung der Demokratie. Expo gilt als führende schwedische Organisation zur Beobachtung der rechtsradikalen Szene. Zwei Schusswaffen, darunter eine Maschinenpistole, wurden sichergestellt.

Wie Polizeisprecher Sponheim mitteilte, hatte beim Einsatz die Antiterroreinheit, die im 40 Kilometer entfernten Oslo alarmiert wurde, mit "Schwierigkeiten bei der Beschaffung eines Bootes" zu kämpfen. Man müsse die näheren Umstände genauer untersuchen.

Kunstdünger für Gemüse und Früchte?

Seit dem Frühjahr soll Anders B. sechs Tonnen Kunstdünger gekauft haben, der zur Herstellung von Bomben geeignet war. Man habe keinen Verdacht geschöpft, weil er einen Agrarhandel "Geofarm" für Gemüse und Früchte betrieb, sagte die Sprecherin des Großhändlers Felleskjøbet, Oddny Estenstad, am Samstag dem TV-Sender NRK.

Die Osloer Innenstadt, wo die Explosion große Zerstörungen angerichtet hat, wurde am Samstag vom Militär gesichert. Über die Gefahr weiterer Anschläge sagte Oslos Polizeichef Øystein Mæland: "Oslo ist heute wieder eine sichere Stadt."

Die norwegische Flagge wehte an allen öffentlichen Gebäuden auf halbmast. Vielen Passanten stand das Entsetzen über das Ausmaß der Zerstörung im Gesicht. Teile des Zentrums waren am Morgen fast menschenleer, gegen Abend kamen dann immer mehr Menschen ins Zentrum, auch um gemeinsam ihre Trauer über die Opfer zum Ausdruck zu bringen.

Oslos Bürgermeister Fabian Stang sagte der dpa: "Es ist schrecklich, dass wir jetzt auch eine solche Situation haben. Ich denke dabei auch an die Menschen in London, New York und anderen Orten, wo solches geschehen ist."

Beileid und Hilfe aus aller Welt

Die internationale Gemeinschaft zeigte sich erschüttert von den Anschlägen. Bundeskanzlerin Angela Merkel und US-Präsident Barack Obama verurteilten die Tat ebenso wie die Europäische Union. Bundespräsident Christian Wulff übermittelte König Harald V. seine Anteilnahme. Für die Ermordung friedlicher Bürger gebe es keine Rechtfertigung, schrieb Kremlchef Dmitri Medwedew.

Merkel sagte, es gebe zwar noch kein abschließendes Bild von der Tat vom Freitag. "Aber es heißt, Hass sei ein Motiv gewesen. Hass auf den anderen, auf den Andersartigen, auf den anders Aussehenden, den vermeintlich Fremden", sagte sie. "Dieser Hass ist unser gemeinsamer Feind." Alle, die an die Freiheit, den Respekt und das friedliche Zusammenleben glaubten, müssten diesem Hass entgegentreten.

Außenminister Guido Westerwelle hatte keine Erkenntnisse darüber, dass deutsche Staatsangehörige unter den Opfern sind. "Ich kann allerdings zur Stunde nicht ausschließen, dass sich die Lage noch ändert", sagte der FDP-Politiker am Samstagnachmittag in Berlin. Er sagte deutsche Unterstützung "bei der Aufklärung der Tatvorgänge, bei der Zusammenarbeit der Sicherheitsdienste, aber auch bei der Betreuung der Hinterbliebenen" zu.

Baden-Württemberg stellt Norwegen sechs Experten der Krisenbewältigung zur Verfügung. Es handele sich dabei um speziell geschulte Psychologen und Polizeibeamte, sagte ein Sprecher des Innenministeriums in Stuttgart der Nachrichtenagentur dpa. Sie seien in der Lage, sich um Opfer und Angehörige sowie um traumatisierte Polizisten und Retter zu kümmern. Diese Aufgabe hatten sie bereits beim Amoklauf von Winnenden im März 2009.

Kirchen rufen zum Gebet für Norwegen auf

Kirchenvertreter haben mit Entsetzen und Trauer auf die verheerenden Anschläge in Norwegen reagiert. Die norwegische lutherische Bischöfin Helga Haugland Byfuglien verurteilte die Tat als Akt sinnloser Gewalt. Das ganze Land sei durch die Anschläge tief getroffen, erklärte Bischöfin Byfuglien und rief zu Gebeten auf. Die Kirchen seien für alle Menschen geöffnet, die Trost und Solidarität suchten, teilte die Theologin auf der Internetseite der Norwegischen Kirche mit. Der evangelisch-lutherischen Kirche in dem skandinavischen Land gehören rund 85 Prozent der Bevölkerung an.

Auch der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Nikolaus Schneider, zeigte sich am Samstag erschüttert und drückte den Hinterbliebenen sein Mitgefühl aus: "Unsere Gedanken und Gebete sind bei den Familien und Freunden der Getöteten." Schneider erklärte: "Ich bin tief erschüttert von den brutalen Gewalttaten, die sich gestern in Norwegen ereignet haben und die so viele unschuldige Menschen in den Tod gerissen haben." Nichts und niemand könne einen solchen Akt des kaltblütigen Mordens rechtfertigen, unterstrich der rheinische Präses. In den Sonntagsgottesdiensten in Deutschland würden die Gläubigen alle Betroffenen und das gesamte norwegische Volk in ihre Gebete einschließen.

Der norwegische Generalsekretär des Ökumenischen Rates der Kirchen, Olav Fykse Tveit, zeigte sich "tief traurig, dass dies in meinem geliebten Land geschehen ist". Norwegen sei nun auf internationale Solidarität angewiesen, unterstrich der lutherische Theologen. Er rief die Christen weltweit zu Gebeten für die Menschen in Norwegen auf: "Lasst uns zusammenhalten für eine Welt des Friedens und der Gerechtigkeit." Norwegen müsse auch künftig ein offenes, friedliebendes Land bleiben.

Der Bevollmächtigte der EKD bei der Bundesregierung, Bernhard Felmberg, schickte ein Kondolenzschreiben an den norwegischen Botschafter in Berlin, Sven Erik Svedman. "Wir sind schockiert über diese verabscheuungswürdigen Vorgänge", schrieb Prälat Felmberg an den Diplomaten.

dpa/epd