Die Enquete-Kommission des Bundestags "Internet und digitale Gesellschaft" verabschiedet sich mit einer Art Paukenschlag in die Sommerpause: Zwar bekannten sich alle Mitglieder zur Notwendigkeit der Netzneutralität, eine gesetzliche Regelung, gar eine Grundgesetzänderung sah die Mehrheit jedoch noch nicht gegeben. Die Abstimmung wurde daher erst einmal in den Herbst verschoben.
Jetzt sind die Bürger gefragt
Mit der Sommerpause werden die Diskussionen jedoch nicht versiegen. So können Bürgerinnen und Bürger sich als "18. Sachverständige" in die Diskussion einbringen. Die Enquete hat dafür die Software "Adhocracy" für den "18. Sachverständiger beta" installiert – nach rund einem Jahr Diskussion. Erst das Angebot von Liquid Democracy e.V. die Software kostenlos zu implementieren, hatte zu dem Beschluss geführt, das Beteiligungsexperiment überhaupt versuchen zu wollen.
Bis Herbst steht nun eine ganze Reihe von Arbeitsgruppen zur Mitarbeit offen. Sie reichen von Metathemen wie "Demokratie und Staat" über internationale Themen wie "Internet Governance", unternehmensnahe wie "Zugang, Struktur und Sicherheit im Netz" und "Interoperabilität, Standards, Open Source", weiche Themen wie "Kultur, Medien, Öffentlichkeit" sowie bürgernahe Themen wie "Verbraucherschutz".
Neue Wege könnte Diskussionen voran bringen
Insbesondere die Arbeitsgruppe "Demokratie und Staat" will sich dem Netz radikal öffnen: Die Sitzungen sollen per Livestream übertragen werden. Selbstverständlich ist das nicht für den Bundestag, erklärt Jimmy Schulz, Obmann der FDP in der Enquete-Kommission und Mitglied der Arbeitsgruppe "Online Beteiligung". Denn es gibt dafür nur limitierte Ressourcen.
Gleichwohl wäre eine Video-Übertragung nicht nur von Vorteil für die Enquete, meint Jimmy Schulz. Diskussionen im Rahmen einer beschränkten Öffentlichkeit hätten eine andere Qualität. Ein Rückzugsraum für offene und ehrliche Aussprachen sei notwendig, um Kompromisslinien zu finden. Schulz: "Vor laufenden Kameras nimmt man keine Position ein, von der man sich wieder zurückziehen muss."
Dabei kommt er auf die kontroverse und wenig fruchtbare Diskussion um die „Netzneutralität“ zurück: "Wir haben danach erkannt, dass wir zu sehr in Details eingedrungen sind. Wir müssen noch mal über den Auftrag der Enquete nachdenken: Geht es darum, sich ein Bild über die Rolle der Freiheit im Internet zu machen? Was sind die treibenden Faktoren für eine produktive, verantwortliche Entwicklung?"
Experiment soll Demokratie stärken
Schulz wünscht sich jedenfalls, dass die Netzpolitik einen "dauerhaften Platz" im Parlament findet. Außerdem soll das Beteiligungsexperiment des "18. Sachverständigen" so weit gebracht werden, "dass es nicht mehr wegzudenken ist aus dem deutschen Parlamentarismus". Ziel sei, "dass wir aus unserer Politikverdrossenheit herauskommen, dass wir die Demokratie stärken."
Inzwischen haben sich rund 1.800 Mitglieder angemeldet, rund 300 Vorschläge eingereicht, etwa 2.000 Mal kommentiert und 11.300 Mal bewertet. Im Vergleich zur Gesamtbevölkerung ist das eine geringe Beteiligung. Doch im Vergleich zum Bundestagsforum auf der Website der Enquete, zu dem sich nur 70 Nutzer angemeldet sind, sind es wiederum viele. "Wir sind im experimentellen Status", sagt Jimmy Schulz.
Adhocracy-Entwickler Friedrich Lindenberg meint: "Für Parlamentarier und Bundestagsverwaltung ist die Beteiligung ziemlich ungewohnt, aber der eine oder andere Netzbürger ist, glaube ich, vom Umfang und der Tiefe der Inhalte überrascht." Lindenberg will das Tool jetzt noch verbessern, damit die Mitarbeit einfacher wird und die Ziele klarer kommuniziert werden. Denn letztlich stehe und falle das Projekt mit der Frage: Wer macht mit?
Dazu gehört auch die Frage, inwieweit Organisationen wie Verbände und Vereine an der Diskussion teilnehmen können. Es gibt inzwischen eine Möglichkeit für Organisationen sich über die Bundestagsverwaltung anzumelden und sich in die Diskussion einzubringen. Sie erhalten einen Spendenaufruf und wenn sie spenden, ein Etikett namens "Unterstützer". Abstimmen dürfen sie nicht mehr. Für Lindenberg ist es dabei schön, "dass es eine softe Konvention schafft, um Lobbyismus öffentlich zu machen."
Das Projekt hat viele Förderer
Das für den Bundestag kostenlose Projekt wird von Programmierern des Vereins Liquid Democracy teilweise ehrenamtlich, teilweise bezahlt weiterentwickelt. Zwei Entwickler werden über Mittel des Fördervereins ISPRAT bezahlt, dem Unternehmen wie Microsoft und IBM sowie Forschungsinstitutionen wie Fraunhofer und die Hertie School of Governance angehören.
Der US-Suchriese Google hat sich ebenfalls dafür entschieden, die Website des "18. Sachverständigen" finanziell zu fördern, damit noch mehr Bürger mitmachen: Das Berliner Think-Tank "Google Collaboratory" bezahlt jetzt einen Community-Manager, der in den jeweiligen Communities Werbung für mehr Beteiligung machen soll.
Ein zweiter Förderbetrag fließt in den Bereich "Usability": Die Website soll noch nutzerfreundlicher werden. Vielleicht kommt der Bundestag im Rahmen des Experiments auch noch zu einer Lösung, wie er selbst kurzfristig eigene Mittel für Verbesserungen in die Hand nehmen kann.
Christiane Schulzki-Haddouti lebt und arbeitet als freie Journalistin in Bonn.