Von einem großen Foto mit bronzefarbenem Rahmen strahlen Edith Jakubassa jeden Tag die Augen ihrer Tochter an, der brünetten jungen Frau mit dem klaren Seitenscheitel, mit weißem Top und schwarzer Strickjacke. Die Haare fallen ins Gesicht. Das Mädchen lächelt zurückhaltend. Am Bilderrahmen klebt eine Haarsträhne, um den Rahmen ist ein Trauerflor gebunden. Marina, das Mädchen auf dem Bild, ist seit fast einem Jahr tot.
Am 24. Juli war die 21-Jährige, die alle zu Hause nur Ina nannten, mitten im Gedränge an der Rampe zum Loveparade-Gelände. "Mir ist so warm, ich krieg' keine Luft", rief sie ihrem Begleiter Adrian noch zu, der sie an der Hand hielt. Dann verließ sie die Kraft im tödlichen Gedränge. Sie sackte nach unten. Adrian konnte sie nicht halten, nicht herausziehen, er wurde weitergeschoben, erzählt ihre Mutter.
Kein Freizeichen auf Marinas Handy
"Marina war ein ganz ruhiges Mädchen, bodenständig, keine wilde Techno-Tänzerin", erzählt Edith Jakubassa. "Sie wollte nur das Fest erleben und hat sich schon unheimlich drauf gefreut." Die Mutter spricht mit gesenktem Kopf und kämpft mit der Erinnerung und den Tränen. Ihren Job im Service eines Krankenhauses konnte sie nach der Katastrophe nicht mehr ausüben. Auch ein anderer Job platzte. "Ich hab die einfachsten Sachen nicht mehr hingekriegt", erzählt sie.
Am 24. Juli 2010 hat Edith Jakubassas Lebensgefährte Friedhelm Scharff Marina morgens zur Arbeit gefahren. "Ina" lernte Friseurin. Sie war fröhlich und gespannt. Auf dem Weg trafen sie viel Polizei, die auf dem Weg zum Loveparade-Gelände war. "Na, dann kann ja nichts passieren", witzelten die beiden im Auto. Direkt nach der Arbeit zogen Marina und ihre Clique los zur Loveparade - mitten in das Chaos.
Edith Jakubassa schaute die Loveparade im Fernsehen an. Dann kam die Meldung: Massenpanik, zehn Tote. Sie habe immer wieder Marina auf dem Handy angerufen, erzählt sie - kein Freizeichen. Das Handynetz war zusammengebrochen. Endlich erreichte sie Adrian. "Ich weiß nicht, wo sie ist", stammelte er. Kurz danach kam dann der Anruf aus einer Duisburger Klinik. Die 21-Jährige war schon mehrfach reanimiert worden und lag im Koma.
Mit Hannelore Kraft am Telefon geheult
Unheimlich sei es gewesen, wie sie äußerlich unversehrt in dem Krankenhausbett auf der Intensivstation lag - nur von Maschinen am Leben erhalten, erzählt Edith Jakubassa. Der Oberarzt sagte der entsetzten Mutter, alle Organe mit Ausnahme des Herzens seien unwiderruflich geschädigt. "Ne, glaub ich nicht, war meine erste Reaktion."
An dem Abend fuhr sie irgendwann wieder nach Hause - für eine Nacht ohne Schlaf. Irgendwann begriff sie: Marina hatte keine Chance mehr. Am Montag, zwei Tage nach der Katastrophe, stellten die Ärzte mit ihrem Einverständnis die Maschinen ab. Am Abend starb die junge Frau.
Seitdem hat Edith Jakubassa ihre Mitte verloren. Sie trägt Kleider ihrer toten Tochter, Marinas Bilder hängen im Wohnzimmer und in der Küche. Marinas Zimmer hat sie irgendwann ausgeräumt, Marinas Bruder Mike wohnt jetzt dort. Etwas Trost hat ihr direkt nach der Katastrophe ein Anruf von Ministerpräsidentin Hannelore Kraft gespendet. "Wir haben zusammen am Telefon geheult", erzählt sie.
Die Begegnungen mit anderen Angehörigen von Opfern sind wie Familientreffen. Der 24. Juli wird das nächste sein. Doch wirkliche Erleichterung gibt es nicht mehr. "Mein altes Leben krieg' ich niemals wieder."