Mit welchem Gefühl denken Sie heute an den Tag der Loveparade zurück?
Dr. Frank Marx: Obwohl ich schon viele Dinge im Leben erlebt habe, und obwohl ich schon ganz viele tote Menschen gesehen habe, ist das, was ich an Empfindungen bei der Loveparade hatte, und zwar positive sowie Angsterlebnisse und Entsetzen, so intensiv gewesen wie in keinem anderen Beispiel zuvor. Das heißt, ich hatte ganz viele widerstrebende Gefühle. Auf der einen Seite waren die Menschen so entsetzt, auf der anderen Seite habe ich erlebt, wie groß, wie intensiv der Wunsch aller war, den Patienten Hilfe zu bringen.
Was genau war Ihre Aufgabe an dem Tag?
Marx: An dem Tag war ich gar nicht Führungskraft. Ich hatte das Privileg, keine spezifisch festgelegte Rolle zu haben, sondern ich war nur für die eingesetzten Kräfte zuständig, um mich zu kümmern, um zu gucken, wie es den Leuten geht, um zu gucken, ob alles läuft, ob alle Medikamente da sind, ob alle Ärzte sich richtig verhalten und ähnliche Dinge. Gewissermaßen war ich Libero und konnte herumfahren.
Wie war der Moment, als Sie zum Tunnel hingehen mussten? Kam ein Notruf? Ging Ihr Piepser?
Marx: Es war eher so, dass ich wegen einer anderen Angelegenheit, nämlich wegen einer Schlägerei in die Nähe des Tunnels gerufen wurde, und mit mir zusammen auch noch zwei Einsatzeinheiten. Das heißt, wir hatten 16 Kranken- und Rettungswagen in der Nähe des Tunnels, die wir gebraucht hätten für diese Schlägerei, die sich aber schon in Luft aufgelöst hatte, als wir ankamen. Dazu muss ich sagen, in diesem Moment waren ja schon ganz viele Besucher unterwegs, und wir hatten Mühe, überhaupt durchzukommen.
Wie schnell waren Sie da?
Marx: Naja, wir waren zum Zeitpunkt des Unglücks gerade einmal eine Viertelstunde an der Sanitätsstation, die die Schlägerei gemeldet hatte, und haben uns wieder organisiert. Und dann erreichte mich ein Anruf aus der Einsatzleitung, über mein Handy, und es wurde mir von der Kollegin dort berichtet, dass irgendetwas im Tunnel passiert sein müsse. Ich wusste, ich konnte nicht die kurze Strecke nehmen, weil der Tunnel verstopft war. Ich kam da nicht rein. Deswegen bin ich über die Autobahn an die Stelle gefahren, an der der Tunnel unter der Autobahn hindurch führt. Dann hab ich meinen Wagen dort abgestellt und bin dort eine Stiege heruntergestiegen, in den Tunnel rein.
Was war dort als erstes zu tun?
Marx: Ich hatte dort die Aufgabe, zuerst einmal die Lage festzustellen. Ich musste gucken: Was ist denn da überhaupt passiert? Und habe um mich herum gesehen, dass sechs junge Leute wiederbelebt wurden. Je weiter ich in den Tunnel hineinging, desto mehr Menschen sah ich, die auf dem Boden lagen, zum Teil wiederbelebt wurden, zum Teil einfach nur bewusstlos auf dem Boden lagen. Dann hab ich die Patienten gezählt. Und bevor ich zur Rückmeldung… Das Handynetz war inzwischen ausgefallen, ich konnte nicht mehr telefonieren. Bevor ich also für die Rückmeldung zurück zu meinem Auto rennen konnte, das ja oben auf der Autobahn stand, hab ich mit einem Polizeibeamten gesprochen. Dem hab ich gesagt: "Wir müssen jetzt ganz viele Rettungskräfte in den Tunnel bringen. Organisieren Sie das bitte so, dass wir auf der einen Seite die Menschen aus dem Tunnel herausführen, und die andere Fahrbahnseite brauchen wir für die Rettungsmaßnahmen." Und ich war völlig erstaunt, dass der das innerhalb von wenigen Minuten umgesetzt hatte. Es kam dann so eine ameisenartige Gruppe von Polizeibeamten an, die die Besucher quasi auf eine Seite gedrückt haben. Und dann hatten wir ausreichend Platz - nach ganz kurzer Zeit.
Also Sie haben praktisch das Kommando übernommen. Waren die anderen froh, dass einer sagte, was zu tun war?
Marx: Ich bin da sehr vorsichtig, weil ich ein gebranntes Kind bin bei der Feuerwehr. Als Ärztlicher Leiter des Rettungsdienstes bin ich manchmal der Buhmann, dem man vorwirft, er akzeptiere Verwaltungsstrukturen und Kompetenzstrukturen nicht. Als Ärztlicher Leiter des Rettungsdienstes leide ich unglaublich bei der Feuerwehr, denn die direkten Vorgesetzten von Feuerwehrleuten sind Feuerwehrleute, und nicht der Ärztliche Leiter Rettungsdienst. Schon gar nicht, wenn es um einsatztaktische Dinge geht. Ich darf denen auf keinen Fall sagen, was sie zu tun und zu lassen haben. In diesem Moment aber, unten im Tunnel, da haben die das alle so akzeptiert, dass ich das Kommando übernommen habe. Alle haben das gemacht, was ich erbeten hatte, und darüber bin ich heute noch froh, dass das gut geklappt hat.
Dann schien es ja zu laufen. Sie hatten etwas Platz, Sie hatten eine Menge Rettungskräfte. Konnten durch diesen Einsatz Menschen reanimiert und gerettet werden?
Marx: Diejenigen, die so etwas berufsmäßig machen, sprechen gerne von einer erfolgreichen Reanimation, wenn sie einen Patienten mit schlagendem Herzen und einem Blutdruck ins Krankenhaus bringen. Tatsächlich ist es bei fünf Menschen gelungen, das zu erreichen. Ich stehe der ganzen Sache viel skeptischer gegenüber. Denn auch die fünf Menschen, die wir zunächst erfolgreich reanimiert ins Krankenhaus transportiert hatten, sind dann gestorben. Es sind alle gestorben, die wir reanimiert haben. Das ist ganz traurig.
Wie sehr hat es Sie damals getroffen und trifft es Sie heute noch, dass 21 Menschen gestorben sind?
Marx: Ich finde es schwer, auf diese Frage zu antworten, weil ich so viele Menschen schon habe sterben sehen. Das ist mein Beruf. Deswegen habe ich das verarbeitet und eingeordnet. Ich kann nur sagen: Wenn ich junge Menschen - aufeinander gelegt oder nebeneinander gelegt - in einem dreckigen Tunnel sehe, wo Colaflaschen, Schuhe, Plastikmüll und Dreck herumliegt, und dazwischen liegen - so dreckig wie aus dem Bergwerk kommend - tote junge Leute, dann sind das Bilder, die mir heute noch ganz präsent im Kopf herumschwirren. Diese Bilder kann ich zurückrufen, als würde ich das Fernsehen anknipsen. Ich erinnere mich noch genau, dass ich abends um zehn Uhr in so einem gelben Scheinwerferlicht der Polizei diese Leichen sah und dachte: "Das kann doch gar nicht wahr sein. Wie unwürdig sieht das aus, in diesem ganzen Schutt hier diese jungen Leute tot zu sehen."
Wie haben Sie es geschafft, diese Eindrücke zu verarbeiten? Haben Sie psychologische Hilfe in Anspruch genommen?
Marx: Nicht die Hilfe eines Psychologen, aber ich habe sehr häufig darüber gesprochen. Nun ist es so, dass meine Frau Polizeibeamtin ist, sie arbeitet in einem Kriseninterventionsteam. Das heißt: Wir haben in Duisburg eine Gruppe von Polizeibeamten und Feuerwehrleuten, die sich als Arbeitsgemeinschaft um die Stressbewältigung bei belastenden Ereignissen kümmert, und meine Frau ist zufälligerweise auch in so einer Gruppe tätig und weiß genau, wie es mir ging, und ich habe ganz häufig mit ihr darüber gesprochen. Wenn Sie über solche Dinge sprechen, gelingt es Ihnen besser, sie einzuordnen.
Fragen Sie sich manchmal, ob Sie alles richtig gemacht haben?
Marx: Immer! Man fragt sich immer, ob man richtig mit den Menschen gesprochen hat, ob man die richtigen Entscheidungen getroffen hat, ob man sich zu sehr hat in die Defensive drängen lassen - Stichwort: Kompetenzgefühl. Es gab zwei Situationen, wo ich richtig massiv werden musste. Als der Einsatz zwei Stunden alt war, kamen diejenigen, die für diese Fälle logischerweise vorgesehen sind, denen hab ich den Einsatz übergeben. Dann muss ich auf einmal sagen: "Ich will das jetzt anders haben! Macht das bitte so!" Und dann guckt der Kollege aus Duisburg sich um und sagt: "Hab ich das denn überhaupt zu tun, was der Doc jetzt sagt?" Das sind Sachen, die mich fertig machen. Das war viel belastender als alles andere.
Gibt es neben den Gefühlen, die belastend sind, auch ein positives Gefühl, das Sie jetzt nach einem Jahr mit dem Einsatz bei der Loveparade verbinden?
Marx: Ja, ganz bestimmt. Das war der Wunsch, einander zu helfen, von allen Beteiligten, ob Fachleute oder Laien, ob Polizeibeamte oder Feuerwehrleute, ganz egal. Das war so intensiv, dass ich richtig gespürt habe, wie… Christen würden sagen: "Der Heilige Geist fliegt durch den Tunnel." Genau so hab ich das empfunden! Und auch, dass ein Zahnrad ins nächste greift und die Dinge so funktionieren wie sie funktionieren sollen. Das ist ein echtes Geschenk. Das meine ich mit "Heiliger Geist", das ist Fügung, das kommt nicht von ungefähr, da bin ich mir hundertprozentig sicher. Außerdem muss ich sagen: Ich selber bin ja nur ein kleiner Mensch. Sie dürfen nicht vergessen, wie viel Unterstützung wir von draußen bekommen haben. Wenn der ganze Einsatz nicht so gut vorgeplant gewesen wäre - mit Versorgung, mit Ärzten, mit Funkkonzept, mit Krankenhäusern - dann wäre zu dieser Katastrophe an diesem Tag noch eine zweite dazugekommen, nämlich dass wir als Feuerwehr völlig versagt hätten. Ich kann nur sagen: Gott sei Dank, mit der Hilfe vieler anderer, ist uns das wirklich sehr gut gelungen.
Zum einen gab es die professionelle Vorbereitung, zum anderen die spontane Hilfsbereitschaft der Besucher untereinander. Wie können Sie erklären, dass die unter Stress in der Lage waren, einander zu helfen?
Marx: Ich bin seit vielen Jahren Notarzt und habe mit den Jahren eine immer sarkastischere und pessimistischere Einstellung bekommen zu dem Willen von Menschen, einander zu helfen. Ich bin an vielen Unfallstellen und in vielen Wohnungen gewesen, wo niemand geholfen hat. Aber im Tunnel habe ich begriffen, dass ich da einem völligen Irrtum aufgesessen war, und habe gelernt: Die Menschen wollen einander helfen und können das auch. Die jungen Leute, diese Raver, die zusammen mit Polizeibeamten Herzmassage und Beatmung gemacht haben - der Polizeibeamte hat Beatmung gemacht, und der junge Raver Herzmassage, das war so toll! Das sind so Momente, in denen man denkt: "Mann, das funktioniert ja!" Oder dieses junge Mädchen, das auf dem Schoß ein anderes Mädchen hat, das ganz dreckig ist im Gesicht, das offensichtlich gerade rausgezogen wurde und nicht mehr konnte. Die hatte das Mädchen im Arm und gibt ihr zu trinken. Das ist auch so ein Bild, was mir nicht weggeht. Also Sie sehen: Ich hab so Blitzlichter, die mir nicht aus dem Gedächtnis gehen.
Dr. med. Frank Marx arbeitet bei der Berufsfeuerwehr Duisburg als Ärztlicher Leiter Rettungsdienst. Am Tag der Loveparade war er "Libero", hatte keinen festen Standort, sondern die Aufgabe, überall nach dem Rechten zu sehen. Frank Marx nennt es im Nachhinein ein "Privileg", dass er zur richtigen Zeit an der richtigen Stelle war.