Vor einem Jahr zappte ich im Urlaub durch die TV-Pogramme des Hotelfernsehens und blieb bei CNN hängen: Unglücksbilder von der Duisburger Loveparade flimmerten weltweit über die Bildschirme. Ich war geschockt, denn den alten Duisburger Güterbahnhof kenne ich gut. Wenn ich zur Arbeit nach Frankfurt fahre, geht die Bahn dort vorbei. In den Tagen nach dem Unglück berichten die amerikanischen Medien nicht mehr vom Unglück. Als ich wieder nach Deutschland kam, drehte sich die öffentliche Diskussion bereits um die Schuldfrage und um die Forderung nach dem Rücktritt des Duisburger Oberbürgermeisters Sauerland.
Vor der Abreise in den Urlaub hatte ich noch mitbekommen, wie sehr die Loveparade auch von der Stadt Duisburg gewollt war. Die Absage der Loveparade im Vorjahr in Bochum aufgrund von Sicherheitsbedenken zeigte, dass die Organisation der Loveparade in Duisburg nicht einfach werden würde. Man wollte es besser machen als in der Revierstadt Bochum – auch dafür stand der Duisburger Oberbürgermeister Adolf Sauerland. Für mich erschien es daher nur logisch, dass Sauerland zurücktreten würde und die Verantwortung übernommen hätte. Warum ist das nicht geschehen?
Ein Bürgermeister, dem Integration wichtig ist
Man kann in keinen Menschen hineinsehen, daher sind psychologische Deutungen schwierig. Die trotzige Verteidigungslinie von Adolf Sauerland nach der Katastrophe passt nicht zu dem Bild des Oberbürgermeisters vor der Loveparade. Sein Engagement für den Moschee-Neubau in Duisburg-Marxloh als interreligiöse und interkulturelle Begegnungsstätte zeigte einen Bürgermeister, dem die Integration in seiner Stadt wichtig ist, der auf Menschen zugehen und sie einbinden kann. Die Kraft zu integrieren hat Sauerland nun gänzlich verloren.
Wie lässt sich diese Veränderung in Sauerlands Verhalten erklären? Erst jetzt, rund ein Jahr nach der Loveparade, sah ich mir im Internet die Statements aus der ersten Pressekonferenz nach der Katastrophe. Ich bin nicht Dr. Cal Lightman aus der US-Serie "Lie to me", der anhand von Gesichtsausdrücken feststellen kann, ob jemand lügt oder die Wahrheit sagt. Auch wenn Adolf Sauerland behauptet, nichts von den prekären Sicherheitsvorkehrungen auf der Loveparade gewusst zu haben, belegen Vermerke das Gegenteil.
Sauerlands reflexartige Behauptung, es habe nicht an den Sicherheitsvorkehrungen gelegen, lässt sich für mich auch als Vorwärtsverteidigung deuten, eben weil Sauerland sich möglicher Versäumnisse der Stadt Duisburg und seiner eigenen Rolle durchaus bewusst war. Er hätte auf der ersten Pressekonferenz, als noch keine Details feststanden, auch den Angehörigen der Toten und den Verletzten sein Mitgefühl aussprechen können und versichern, sich für eine Aufklärung der Ursache einsetzen zu können. Dies hätte ihm Handlungsspielräume eröffnet.
Den Zeitpunkt für einen ehrenvollen Rücktritt verpasst
Durch seine Verteidigung, die gleichzeitig die Ursache für die Katastrophe dem Fehlverhalten der Opfern zuschob, hatte er sich in eine Sackgasse manövriert, aus der es keinen Ausweg mehr gab. Als städtischer Ansprechpartner für die Opfer war er nun unglaubwürdig geworden. Er konnte nicht mehr agieren, sondern je mehr er bedrängt wurde, desto weiter wurde er getrieben zu einer Position, die jegliche Übernahme von Verantwortung (bis jetzt) ausschloss.
Der Oberbürgermeister, der für Integration stand, steht nun – ein Jahr nach der Katastrophe – weithin isoliert da und polarisiert die Duisburger Bürgerschaft. Seine bisherigen Verdienste um die Stadt werden nicht mehr wahrgenommen, vielmehr ist er Ziel für Schmähungen in der Öffentlichkeit. Seine moralische Autorität, für die Stadt zu sprechen, ist dahin. Stattdessen sammelt eine Bürgerinitiative Unterschriften für seine Abwahl. Adolf Sauerland hat den Zeitpunkt für einen ehrenvollen Rücktritt längst verpasst.
Es gilt, die Perspektive zu wahren. Die Opfer der Loveparade sind die Toten und Verletzten sowie ihre Angehörigen. Zu klären bleibt, warum es zu dieser Katastrophe kommen konnte und wer strafrechtlich, politisch und moralisch verantwortlich dafür ist. Daneben stellt sich für mich allerdings auch eine weitere Frage: Wie kann es einem Politiker gelingen, aus einer Sackgasse herauszukommen, in die er sich selbst reflexartig und unüberlegt manövriert hat? Hätte Adolf Sauerland gewusst, was in dem Jahr nach der Katastrophe der Loveparade auf ihn zukommt, hätte er sich mit Sicherheit unmittelbar nach Bekanntwerden des Unglücks anders verhalten.
Worte lassen sich nicht mehr einfangen
Die Loveparade ist nicht vergleichbar mit der Plagiatsaffäre des ehemaligen Bundesverteidigungsministers von Guttenberg. Aber in einem Punkt gibt es eine Parallele. Auch von Guttenberg stritt am Anfang reflexartig seine Schuld ab und behauptete wider alle Lebenserfahrung, nicht wissentlich getäuscht zu haben. Es ist ein urmenschlicher Reflex, eigenes Fehlverhalten abzustreiten. Politiker leben allerdings in der Öffentlichkeit. Ist einmal erst etwas bestritten, lassen sich die Worte nicht mehr einfangen. Je mehr Zeit verstreicht, desto schwerer wird es, den Fehler zuzugeben, man ist in einen Teufelskreis verstrickt.
Für mich stellt sich daher auch die Frage nach der politischen Kultur: Fehler einzugestehen und Verantwortung zu übernehmen ist keine Schwäche, ein Durchstehen von Affären keine Stärke. Gerade im Umgang mit eigenen Fehlern kann sich Größe zeigen, die auch einen Neuanfang möglich werden lässt. Mir ist ein Politiker lieber, der Fehlverhalten – ob das eigene oder aus seinem Umfeld – eingesteht und dafür Verantwortung übernimmt. Solch ein Politiker hat eine zweite Chance verdient.
Adolf Sauerland hat leider den Zeitpunkt verpasst, Fehler einzugestehen und Verantwortung zu übernehmen. Nun hängt er mehr als ein Jahr durch. Ob er je eine zweite Chance erhält, ist mehr als fraglich. So ist er (natürlich in einem völlig anderem Sinne) auch ein Opfer der Loveparade geworden, die Verantwortung dafür trägt er aber selber.
Ralf Peter Reimann ist Pastor und arbeitet bei evangelisch.de.