"Eva." Pierre wibbelt auf seinem Stuhl. Eigentlich ist er Nachwuchsclown, das Stillsitzen liegt ihm nicht besonders. Aber gerade sitzt er an seinem Pult im Schulwagen. "Eeeeva!", ruft er etwas lauter und zieht sie an der Hand. "Warte!", sagt Eva. Sie kontrolliert gerade das Diktat der siebenjährigen Rachel. Ein kleiner Fehler hat sich eingeschlichen. "Wenn du das korrigiert hast, dann mach Rechenaufgaben", sagt Eva zu Rachel - auch sie steht als Clown in der Manege, wenn sie nicht gerade zur Schule geht.
Neben ihr sitzt Isabell, elf Jahre alt, still und konzentriert. Ist sie nicht hier, tritt sie mit ihrer Akrobatiknummer auf. Isabell löst gerade Schnellrechenaufgaben am Computer. Von Pierres Ungeduld bekommt sie nichts mit, sie hat Kopfhörer auf den Ohren. "Eva", trällert Pierre. Eva schaut Isabell über die Schulter, dann setzt sie sich neben Pierre. Der Achtjährige liest laut und Eva hilft, wenn er nicht weiterkommt. "Fertig", ruft Isabell von der anderen Seite des Wagens. Und Eva wechselt den Schüler.
Eva Röthig ist Lehrerin. Eine etwas andere Lehrerin in einer etwas anderen Schule. An der Schule für Circuskinder in NRW – einem Projekt der Evangelischen Kirche im Rheinland. Seit Pierres Geburt vor acht Jahren unterrichtet sie die Schüler des Zirkus Proscho. Drei Tage pro Woche fährt sie dorthin, wo der Zirkus gerade gastiert – manchmal quer durch Nordrhein-Westfalen. Damit auch die Kinder regelmäßig in die selbe Schule gehen können, die sonst gewohnt sind, Klassenzimmer, Schulkameraden und Schule wöchentlich zu wechseln – bis zu 50 Mal im Jahr. Heute und den Rest dieser Woche fährt Eva nach Lünen im Ruhrgebiet.
Fünf Schüler, fünf unterschiedliche Leistungsniveaus, fünf unterschiedliche Klassen. Sie alle unterrichtet Eva Röthig gemeinsam im Schulwagen, ähnlich einem Zirkuswagen. Nur dass der mit Schreibpulten und Laptops, Wasserfarben und Rechenschiebern, W-Lan und einer Musikanlage ausgestattet ist. Ein Klassenzimmer auf Rädern, mitten zwischen Zirkuswagen.
Keine festgelegten Pausen, keine festen Unterrichtszeiten
Gerade ist Pause. Rachel und Isabell kommen zum Schulwagen - unaufgefordert. Hier gibt es keine Schulglocke, keine festgelegten Pausen- oder Stundenzeiten. Der Unterricht wird unterbrochen, wenn es nötig ist, die Stunden dauern so lange, bis der Stoff durch ist. Die Mädchen ziehen ihre Schuhe aus, setzen sich auf ihre Plätze und holen ihre Unterlagen aus den Schulranzen. Lara, 16, und John, 17, kommen erste heute Nachmittag in die Schule – gerade stehen sie in der Manege. Aber noch fehlt Pierre.
Isabell macht Matheaufgaben am Computer, Rachel liest Eva Röthig vor. Foto: Maike Freund
Rachel und Isabell laufen noch mal los, um Pierre zu holen. Nintendospielend steigt er die zwei Stufen zum Wagen hoch, streift seine Schuhe ab, ohne auch nur den Kopf zu heben. Eva schaut ihn mahnend an. Pierre drückt noch ein paar Mal auf den Tasten des Computers herum, dann legt er ihn in die Schublade und holt seine Leseunterlagen heraus.
Die Schule für Circuskinder in NRW ist ein Projekt der Evangelischen Kirche im Rheinland und bisher einzigartig. Seit 1994 gibt es die staatlich genehmigte private Ersatzschule. Unterrichtet wird hier Primarstufe und Sekundarstufe I, pro Zirkus ein Lehrer. Die Schüler beenden die Schullaufbahn mindestens mit einem Realschulabschluss. Andere Bundesländer sind auf das Projekt aufmerksam geworden und im Moment finden Gespräche statt, Kindern anderer reisender Berufsgruppen – zum Beispiel Schaustellern oder Puppenspielern – die Möglichkeit einer fahrenden Schule zu bieten. Im kommenden Schuljahr unterrichten 32 Lehrer 115 Schüler von 60 Zirkussen. Noch einmal 120 Schüler lernen ihren Stoff online per Fernunterricht.
Lernen ist auch anders möglich
"Welche Farben darf ich benutzen?", fragt Pierre. "Welche Farben sind denn Erdfarben?" Also greift er zu braun und gelb und rot und malt Tupfen auf eine zukünftige Tischdecke. Isabell benutzt lieber die Finger für ihre Schlangen. Die Stühle sind zur Seite gerückt, auf dem Boden liegt ein langes Stück Papier. Isabell, Rachel und Pierre knien davor. Kunst steht auf dem Stundenplan. Zum Sommerfest basteln alle Schüler der Schule für Circuskinder zum Thema Australien.
Nebenfächer werden hier übergreifend unterrichtet. Kunst ist nicht nur Kunst, sondern auch Sachkunde und Religion. Da können schon mal Glaubensfragen aufkommen, die dann beim Malen diskutiert werden. Heut gibt es während des Kunstunterrichts eine Lektion in Musik: "Bruder gib mir deine Hand", schallt es aus den Lautsprechern der Musikanlage. Alle drei singen mit.
Pierre, Rachel und Isabell beim Malunterricht. Foto: Maike Freund
Nussi Maatz, die Mutter von Rachel und Lara, musste die Schule früher wöchentlich wechseln. Zum Stress, mit immer neuen Klassenkameraden und Lehrern zurechtkommen zu müssen, kam hinzu, dass vom Unterrichtsstoff nicht viel hängen blieb. Das wollte sie für ihre Kinder nicht - und da kam das Angebot der Evangelischen Kirche im Rheinland gerade recht.
Also stellten sie ihre Arbeit um. Früher sind Eltern und Kinder regelmäßig aufgetreten. Jetzt unterrichten sie die meiste Zeit Schüler unterschiedlicher Schulen in Projektwochen und bringen ihnen Clown und Artistiknummern bei. Das ist besser fürs Geld, denn die Einnahmen sind kalkulierbar. Und es ist einfacher, regelmäßig Unterricht stattfinden zu lassen.
Und der Unterricht im Zirkuswagen gibt ihnen recht: Lernen ist auch anders möglich. Rachel wurde zum Beispiel mit fünf eingeschult. Jetzt, mit sieben, sind ihre Kenntnisse in Deutsch überdurchschnittlich, dafür ist sie in Mathe nicht ganz so weit. Also fördert Eva Röthig ihre Schüler so individuell, wie sie es brauchen und in dem Tempo, wie es ihrem Lernen förderlich ist – nach den Leitsätzen der Evangelischen Kirche.
"Au, au, aus - die Schule ist aus"
Die Lehrer an der Schule für Circuskinder sind nicht alle evangelisch. Sie identifizieren sich aber mit den Bildungszielen der Evangelischen Kirche. Wichtig sind Flexibilität, Vertrauen und eine gute Portion Gelassenheit. Die Lehrer unterrichten nicht nur, sie sind auch Ansprechpartner bei sozialen Problemen. Oft werden sie von der Zirkusfamilie um Rat gefragt.
Lernen im Zirkuswagen: Rachel, Isabel, Pierre und ihre Lehrerin Eva Röthi. Foto: Maike Freund
Und obwohl weder der Religionsunterricht, noch die Konfession an erster Stellen stehen, "spielt Religion im Alltag eine Rolle – natürlich", sagt Klaus Eberl, Oberkirchenrat der Evangelischen Kirche im Rheinland. Zum Beispiel im Abschlussgottesdienst, den die Schüler mitgestalten. In Sonntagspredigten, die durch ein Artistikprogramm anschaulich werden. Und natürlich soll an der Schule ein Lernen ermöglicht werden, das die Menschenfreundlichkeit Gottes ausstrahlt: "Mit dem Blick auf die Ressourcen jedes Kindes, einer Kultur der Fehlerfreundlichkeit und der Zuversicht, dass es aus jedem Scheitern einen Neuanfang gibt", sagt Eberl.
Zehn nach eins: Rachel will keinen Steckbrief mehr über die Tiere Australiens ausfüllen. "Was wir angefangen haben, machen wir auch zu Ende", sagt Eva. Aber die Luft ist raus. "Rachel, räum den Tisch auf. Isi, du kannst schon Schluss machen." Pierre muss noch lesen. "Klaus schraut", liest Pierre. "Nicht raten", sagt Eva. "Klaus schaut?", fragt Pierre. Dann singt er: "Au, au, aus. Die Schule ist aus." "Noch nicht ganz", sagt Eva. "Du musst zu Ende lesen." "Aus, aus, aus", singt Pierre. "Hau ab", sagt Eva. "Morgen ist wieder Schule." Und Pierre greift nach seinem Nintendo DS und hüpft aus dem Wagen.
Maike Freund ist Redakteurin bei evangelisch.de