Loveparade: "Angehörige brauchen weiter Unterstützung"
Ihr Job fängt da an, wo die Mediziner aufhören. Notfallseelsorger trösten Menschen, die andere sterben sahen. Sie beruhigen jene, die ihre Verwandten und Freunde suchen. Und sie helfen den Helfern. Joachim Müller-Lange koordinierte den Einsatz der Notfallseelsorger bei der Loveparade-Katastrophe am 24. Juli 2010 in Duisburg. 21 Menschen verloren damals ihr Leben, hunderte wurden verletzt. Bereits kurz nach dem Unglück sprach der Pfarrer mit evangelisch.de über seine Erlebnisse. Nun, ein Jahr danach, blickt er zurück.
19.07.2011
Die Fragen stellte Bernd Buchner

Herr Müller-Lange, die schrecklichen Bilder von der Loveparade sind jetzt ein Jahr alt. Was hat sich bei Ihnen besonders eingeprägt?

Müller-Lange: Am meisten geprägt haben mich die Bilder von der Aussegnung der Toten, die ich als Leiter der psychosozialen Notfallversorgung vornahm. Ich habe bei allen Personen einen Augenblick verharrt, für sie gebetet und einen Segen gesprochen. Das sind die Bilder, die einem nicht aus der Erinnerung verloren gehen.

Waren auch Angehörige dabei?

Müller-Lange: Nein, das war zu einem Zeitpunkt, als alle Verletzten wegtransportiert und alle diejenigen, die Betreuung brauchten, in einem Zelt waren, in dem die Maßnahmen durchgeführt worden sind.

In welcher Weise hatten die Angehörigen die Möglichkeit, von den Toten Abschied zu nehmen?

Müller-Lange: Das war ganz unterschiedlich. Die Toten sind später in die jeweils zuständige Gerichtsmedizin überführt worden. Nachdem sie freigegeben wurden, konnten sie von den Angehörigen beziehungsweise den Bestattern abgeholt werden.

Sie sagten in unserem Gespräch vor einem Jahr, am Anfang habe die Fassungslosigkeit über allem gestanden. Wie hat sich die Erinnerung an das Geschehene gewandelt?

Müller-Lange: Aus der Fassungslosigkeit und dem Erschrecken des Anfangs ist zunächst einmal Wut entstanden: Zorn und Empörung darüber, dass dieses Ereignis so passieren konnte und niemand bereit ist, die Verantwortung dafür zu übernehmen. Das hat sich über einen langen Zeitraum so erhalten. Inzwischen hat es Kontakte von Angehörigen zum Veranstalter gegeben, der die politische Verantwortung für die Katastrophe übernommen hat. Mittlerweile, leider sehr spät, hat auch der Duisburger Oberbürgermeister die moralische - nicht die juristische - Verantwortung übernommen. Auf Dauer wird das das Verhältnis der Angehörigen zur Stadt Duisburg sicherlich verbessern können. Im Moment sind die Familien aber noch sehr verbittert über die Zeit unmittelbar nach dem Unglück. Im Vorfeld des Jahrestages konnten wir noch einmal engen Kontakt zu den Angehörigen aufnehmen. Es gab schon fünf Angehörigentreffen, dabei sind sehr unterschiedliche Bedürfnisse deutlich geworden. Dazu gehörte in besonderer Weise, dass die Landesregierung die Koordination der Gedenkfeier und die Notfallseelsorge ihre Gestaltung übernehmen.

Sie haben die "Entschuldigung" des Duisburger Oberbürgermeisters angesprochen. Brauchen die Angehörigen einfach noch Zeit?

Müller-Lange: Wie gesagt, auf Dauer sind diese Schritte gut, und sie werden sicherlich dazu beitragen, dass eine Versöhnung mit dem Ereignis und damit auch mit der Stadt Duisburg und ihren Vertretern geschehen kann. Noch brauchen die Angehörigen auf jeden Fall Unterstützung. Wir haben im Moment die Unterstützung durch die Gesellschaft – das ist ganz anders als bei vergleichbaren Katastrophen, die eher ganz schnell in Vergessenheit gerieten. In Duisburg ist es so, dass die gesellschaftliche Aufmerksamkeit noch einmal ganz stark auf dieses Ereignis gelenkt ist. So stehen die Angehörigen im Moment in einem Spagat: Es tut ihnen auf der einen Seite gut zu merken, dass die Gesellschaft sie nicht vergessen hat. Aber mit jeder Nachricht, jedem Fernsehbeitrag, mit jeder Zeile in den Zeitschriften über das Ereignis wird der Schmerz wieder hochgespült. So ist es eben beides: Genugtuung und Leid.

Gibt es Angehörige, an die man gar nicht herankommt?

Müller-Lange: Die Notfallseelsorge hat jetzt Kontakt zu 20 der 21 Familien. Das heißt, auch die Angehörigen aus China, Spanien, Italien und den Niederlanden werden bei dem Jahrestag dabei sein. Es wird von Freitag bis Montag ein Treffen geben, zu dem sich bereits 160 Angehörige angemeldet haben. Es gibt ein hohes Bedürfnis, diesen Jahrestag zu begehen – auch im Kreis derjeniger, die die gleiche Erfahrung gemacht haben.

An dem Einsatz bei der Loveparade-Katastrophe waren rund 100 Notfallseelsorger beteiligt. Wie haben sie ihren Einsatz nachbereitet?

Müller-Lange: Am Anfang waren wir 30 und dann in der Tat nahezu 200, wenn man alle zusammenzählt, die in den ersten vier Wochen nach der Katastrophe gearbeitet haben. Die Notfallseelsorger hatten in ihren jeweiligen Einsatzabschnitten die Möglichkeit, eine Supervision in Anspruch zu nehmen, vor allem aber nach dem Einsatz. Auch jetzt zum Jahrestag werden wieder Supervisionsmöglichkeiten geschaffen.

[listbox:title=Mehr im Netz[Hilfsangebote für Angehörige und Verletzte##Facebook-Seite zur Unterstützung von Loveparade-Opfern##Juristische Hilfe für Hinterbliebene, Verletzte oder psychisch Betroffene durch die Ruhr-Uni Bochum]]Was bedeutete die Duisburger Katastrophe für die Notfallseelsorge generell? Hatten Sie den Eindruck, eine Bewährungsprobe bestanden zu haben?

Müller-Lange: Ich erlebe die Möglichkeit, die wir mit der Notfallseelsorge im Anschluss an dieses Unglück gehabt haben, als einen Quantensprung in der Geschichte der Katastrophen in der Bundesrepublik. Es hat noch nie so früh – wenn man das Zugunglück von Eschede ausnimmt – einen Ombudsmann gegeben, es hat noch nie so früh Hilfsfonds gegeben, die sich sehr intensiv um die Belange der Angehörigen kümmerten. In enger Zusammenarbeit mit Landesregierung und Gesundheitsministerium wurde auch ein Konzept für die mittel- und langfristige Nachsorge entwickelt. Das beinhaltet die Hotline 0800-2472010 und eine E-Mail-Beratung im Internet. Wir haben die Möglichkeit, die Nachsorge viel intensiver durchzuführen als bei anderen Katastrophen.

Wächst der Kirche da eine neue Rolle zu? Die Loveparade bewegte sich ja in einem weithin entkirchlichten Milieu – doch als Trostgeber, als Ort für Trauer ist Kirche gefragt.

Müller-Lange: Das ist auch für uns eine neue Erfahrung. Auf der einen Seite gibt es die Angehörigen in und mit ihrer Trauer. Auf der anderen Seite hatten wir eine Vielzahl von Verletzten mit ihrem eigenen Bedürfnis, Erfahrungen auszutauschen. Es war sehr berührend, als sie nach dem ersten Treffen weitere Begegnungen erbeten haben. Insofern kann man deutlich sagen, dass die psychosoziale Arbeit – um es säkular zu beschreiben – inzwischen sehr stark akzeptiert ist. Es war auch in guter Weise akzeptiert, dass sich die Kirchen in diese Arbeit federführend eingebracht haben. Ihnen wird über die eigentliche Notfallseelsorge hinaus die Kompetenz zugeschrieben, nach solchen Ereignissen angemessen mit Angehörigen und verletzten Überlebenden umzugehen.

Mit welchen Gefühlen gehen Sie ein Jahr danach an die Stelle zurück, an der sie zu helfen versucht haben, an der Sie Tote ausgesegnet haben?

Müller-Lange: Die Frage, wie dieses Unglück passieren konnte, lässt auch uns nicht los. Es ist ein Gefühl der Ohnmacht, an dieser Stelle deutlich spüren zu müssen, dass die staatsanwaltlichen Untersuchungen noch nicht so weit sind, dass sich die Schuldfrage abschließend klären ließe. Das sind Dinge, die Angehörige nachhaltig weiter belasten werden. Insofern macht uns das auch besondere Gedanken. Trost ist im Grunde nur in Situationen möglich, wo man die Chance hat, an einem Ereignis zu reifen und weiterzukommen. Hier sind noch natürliche Hürden da. Uns wird deutlich, dass die Trauer, aber auch die Trauma-Folgestörungen bei den Verletzten noch anhalten werden und die Angehörigen und die Verletzten keinen Abschluss finden können. Als diejenigen, die die Gruppen unterstützen, wünschen wir uns diesen Abschluss – auch wenn er noch einmal hart und bitter sein könnte. 


Pfarrer Joachim Müller-Lange (58) leitete bis vor wenigen Monaten das Landespfarramt für Notfallseelsorge der Evangelischen Kirche im Rheinland. Heute ist er theologischer Dezernent in der Abteilung Theologie und Diakonie des Landeskirchenamtes der rheinischen Landeskirche in Düsseldorf.