Gaza: Paradies für Reiche und Zeitbombe für Arme
Nur ein kleines Boot aus der in Griechenland festgesetzten Flottille nimmt Kurs auf den Gazastreifen. Die pro-palästinensischen Aktivisten an Bord wollen gegen die Blockade protestieren. Zwar hat Israel seine Sanktionen gelockert, aber nur die Reichen profitieren davon.
19.07.2011
Von Hans Dahne

"Dieser wunderbare Platz ist wie eine Therapie. Man kann Menschen mit Spaß kurieren. Wir haben genug gelitten", sagt Jussef Abdallah. Der 32-Jährige arbeitet am zurzeit wohl dekadentesten Platz inmitten des ganzen Elends im Gazastreifen - dem Crazy Water Ressort. Große Rutschen, Swimmingpool, Wasser plätschert in kleinen Bächen um künstliche Inseln. Umgerechnet vier Euro kostet der Eintritt. So viel Geld kann eine Mehrheit der 1,6 Millionen Palästinenser pro Woche ausgeben.

Nach der blutigen Übernahme einer Hilfsflotte für den Gazastreifen hat Israel im Juni vergangenen Jahres seine Blockade gelockert. Lebensmittel und Dinge des täglichen Lebens passieren ohne Einschränkungen die Grenze. In den Supermärkten von Gaza reicht das Angebot von Cornflakes bis Eiscreme, von Ketchup bis Rasierschaum.

Der Schmuggel floriert

"Die Einzigen, die von der Lockerung der Blockade profitieren, sind die Reichen. Sie können es sich leisten, alles zu kaufen. Aber die meisten Menschen haben nur wenig Geld, weil sie arbeitslos sind", sagt der 29 Jahre alte Ijad Habil. Die Arbeitslosigkeit im Gazastreifen liegt bei 45 Prozent. Sechs von zehn Palästinensern gelten als arm. 70 Prozent sind laut Vereinten Nationen auf internationale Hilfslieferungen angewiesen.

Wer sind die Reichen? Der einzig florierende Wirtschaftszweig ist der Schmuggel. Rund 300 Tunnel unter der Grenze vom Gazastreifen zu Ägypten seien rund um die Uhr im Betrieb, sagen Schmuggler. Hereingebracht wird alles, was Israel als legalen Import verbietet.

Im Gazastreifen gibt es auch eine Mittelklasse. 80.000 Menschen gehören dazu, die von der Autonomiebehörde in Ramallah Monat für Monat ihr Gehalt überwiesen bekommen - ohne auch nur einen Finger krumm zu machen. Der Grund: Seit die radikal-islamische Hamas im Juni 2007 die Macht übernahm, boykottieren frühere Mitarbeiter die neuen Herrscher - bei vollem Gehalt. Und weil das so ist, hat die Hamas 30.000 eigene Leute für die Verwaltung und Sicherheit rekrutiert. Sie verdienen zwischen 400 und 600 Dollar pro Monat. Zur Klientel, die Geld hat, gehören auch Mitarbeiter von Hilfsorganisationen.

Fehlende Rohmaterialien für Wiederaufbau

Wer durch Gaza fährt, wundert sich über den Bauboom. Entlang der Küste sind neue Hotelanlagen aus dem Boden geschossen. Die Antwort auf die Frage nach dem kleinen Wirtschaftswunder lautet überall gleich: Geldwäsche. Demnach investiert die Hamas über Mittelsmänner Geld aus der Besteuerung von Schmuggelgut.

"Die Blockade hat die wirklichen Geschäftsleute schwer getroffen", sagt der Vorsitzende des Unternehmerverbandes in Gaza, Ali Al-Haik. Er habe zwei Firmen schließen müssen, weil er weder Ersatzteile noch Rohstoffe importieren könne. Hinzu kämen das von Israel verhängte Exportverbot sowie ständige Stromsperren. In Gaza bekommt jeder Stadtteil nur acht Stunden Strom pro Tag.

Zehntausende Palästinenser haben vor Beginn der Abriegelung, die im Juni 2006 mit der Entführung des israelischen Soldaten Gilad Schalit in den Gazastreifen begann, gutes Geld in Israel verdient. Die große Mehrheit ist heute arbeitslos. Ganze Branchen wie die Textilindustrie liegen am Boden.

"Es hat Veränderungen gegeben, seit Israel die Blockade gelockert hat", sagt Adnan Abu Hasna, Sprecher des UN-Hilfswerkes für Palästina-Flüchtlinge. "Aber diese Veränderungen betreffen nicht grundlegende Rohmaterialien, die für den Wiederaufbau sowie für die Industrie notwendig sind."

"Gaza ist wie eine Zeitbombe"

Das Flüchtlingshilfswerk hat laut Abu Hasna ein Budget, um beispielsweise 10.000 Wohneinheiten sowie 100 Schulen zu bauen. Aber was hilft Geld, wenn die notwendigen Materialien nicht ankommen. "Die Grenzübergänge sind wie ein Flaschenhals. Es ist unbillig zu sagen, dass die Blockade 20, 30 oder 40 Prozent gelockert wurde. Sie muss vollständig beendet werden - im Interesse von Frieden und Stabilität", sagt er.

Die Reichen in Gaza lassen es sich gutgehen. Und die Armen hegen keine großen Illusionen über ihre Zukunft. "Gaza ist wie eine Zeitbombe, die jederzeit hochgehen kann. Die hohe Arbeitslosigkeit und Patienten, die nur auf ihren Tod warten. Stell dir vor, dein Kind ist krank und du kannst es nicht zur Notfallbehandlung ins Ausland bringen", klagt Mutassir Mbgat, Vater von sieben Kindern. "Die einzige Zukunft ist Krieg."

Und selbst im paradiesischen Wasserpark gibt es Grund zur Klage. "Die Israelis können niemals gewinnen. Wir können nicht gewinnen. Wir werden weiterkämpfen bis zum Tag des jüngsten Gerichts", sagt Jussef Abdullah.

dpa