Balsam für die verletzte japanische Seele
Wenn wir an Japan denken, haben wir Bilder von zerstörten Dörfern, weindenen Menschen und havarierten Atommeilern vor Augen. Nun steht die Frauennationalmannschaft Japans im Endspiel der Fußballweltmeisterschaft. Sollten die Japanerinnen tatsächlich am Sonntag die USA schlagen, wäre das vor allem für die Außendarstellung des Landes ein großer Gewinn.
16.07.2011
Von Matthias K. Scheer

 Schwingt sich die japanische Frauen-Nationalelf wirklich zum "Imageretter Japans" auf? Das meint jedenfalls die Frankfurter Allgemeine Zeitung und spricht in ihrem Feuilleton (!) von der "höchsten Not", in der sich Japan angeblich befindet. Die unausgesprochene Parallele zum Wunder von Bern und seiner Bedeutung für die deutsche Nachkriegszeit ist offensichtlich unwiderstehlich. Aber dieser Vergleich ist so selbstreferentiell, dass nicht einmal der Verweis auf Radio Eriwans "im Prinzip, ja" weiterhilft.

Deutschland hatte 1954 in jeder Hinsicht den Tiefpunkt seiner Geschichte gerade hinter sich. Die berühmte Stunde Null war ein schräger Euphemismus für moralischen, politischen und wirtschaftlichen Bankrott, Not, Verzweiflung, Schuld, Scham und Trauer nie erlebten Ausmaßes einerseits und Befreiung und Chance eines Neuanfangs andererseits. Der Sieg der deutschen Fußball-Nationalmannschaft gegen die Ungarn symbolisierte die Hoffnung, in den Kreis der zivilisierten Nationen wieder aufgenommen und anerkannt zu werden und zugleich wieder ein Stück der früheren Weltgeltung zu erlangen.

In der Wirtschaft ein langer relativer Abstieg

Japan dagegen war bis zum Ende der achtziger Jahre der wirtschaftliche Angstgegner der westlichen Welt. In den USA wurde in den Medien über den "Coming War with Japan" fabuliert. Weltweit waren die Japaner als überlegene Konkurrenten gefürchtet. Sie hatten schon das Rockefeller Center in New York und das Vier Jahreszeiten in Hamburg an sich gebracht und würden womöglich als nächstes die USA vom Thron stoßen. Dann platzte im Jahre 1989 die Aktien- und Immobilienblase, und Japan schlitterte in eine lange Stagnation und Deflation.

Das westliche Ausland schrieb Japan fortan ab, obwohl Japan bis immerhin 2010 die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt war und jetzt immer noch im weiten Abstand vor Deutschland den dritten Platz der Industrienationen einnimmt. Wer wie ich vor kurzem die Handelskammer Hamburg ein Seminar über Japan organisiert, muss die wenigen Interessierten bewirten, wer über China referiert, kann Eintritt nehmen. Wenn aber westliche Medien von mehr als 20 Jahren Krise redeten, waren die Japaner verwundert und fragten "welche Krise?" Japan hatte immer noch die Bronzemedaille und war entsprechend selbstbewusst. Es war von der Situation Deutschlands im Jahre 1954 weit entfernt.

Das hat sich seit dem März dieses Jahres geändert. Die dreifache Katastrophe – Erdbeben, Tsunami und GAU – war zwar ein sehr harter Schlag für die Japaner, aber die Reaktion der Deutschen wurde als übertrieben und hysterisch empfunden. Deutsche, die wegen des "bisschen Oho!" in Panik Tokyo oder gleich Japan verließen, wurden dort spöttisch als furaijin (fly + gaijin = (weg)fliegende Ausländer) verhöhnt. Erst jetzt, da allmählich bekannt wird, dass in Japan verstrahltes Rindfleisch verkauft und ahnungslos verzehrt wurde, werden die Reaktionen erkennbar nachdenklicher und besorgter. Japan hat seinen langen relativen Abstieg nicht als solchen empfunden und steht noch unter Schock der jüngsten Katastrophe.

Es ist den Japanern nach all dem Leid zu gönnen

Was bedeutet in dieser Situation der Einzug der Japanerinnen ins Finale? Wenig im Vergleich zum medialen Hype in Deutschland, obwohl auch die zweimaligen deutschen Fußball-Weltmeisterinnen lange ignoriert, belächelt und noch vor kurzem sogar von einem Tatortkommissar verspottet wurden ("Ich sehe beruflich schon so viel Elend. Das tue ich mir nicht auch noch an!"). In Japan zählen in erster Linie Baseball und Sumo. Nachdem Japan 2002 zusammen mit Südkorea Gastgeberland der Fußball WM gewesen war, nahm die Zahl der fußballinteressierten Japaner zu. Internationale Erfolge von Fußballgrößen wie früher Okudera und jetzt Kagawa werden mit Stolz registriert, aber die Fußballspielerinnen haben die Nation trotz großer Leistungen bisher nicht vom Hocker gerissen.

Wenn die japanischen Spielerinnen allerdings am Sonntag Weltmeisterinnen werden sollten, könnte sich das ändern. Bisher waren ihre Erfolge immerhin Balsam für die verletzte japanische Seele. Für die Außenwirkung Japans, also das japanische Image, wäre ein Sieg der japanischen Frauen-Nationalelf ein großer Gewinn, vor allem in den fußballbegeisterten Ländern Europas, Lateinamerikas und Afrikas. Bei aller zu Hause halboffiziell gepflegten Gesichtslosigkeit hätte Japan im Ausland plötzlich ein Gesicht wie Deutschland jahrelang mit Oliver Kahn in Japan.

Wenn Japaner bisher gefragt wurden, welche Japanerinnen weltweit am bekanntesten sind, konnten sie sich nicht vorstellen, dass Yoko Ono dazugehört. Jetzt könnte die führende japanische Repräsentantin der Herzen z.B. Homare Sawa heißen, die "mit ihrem Traumpass die deutsche Abwehr aushebelte". Hätten Sie der ZEIT diesen Satz zugetraut? Selbst die FAZ titelte "Arigato gozaimas" (vielen Dank). Das hätte sich keine japanische PR-Firma besser ausdenken können. Es ist den Japanern nach all dem Leid, das ihnen in der letzten Zeit widerfuhr, zu gönnen.


Matthias K. Scheer ist Japanologe und Jurist. Er hat in Hamburg, Kyoto und Harvard studiert und über japanisches Recht promoviert. 21 Jahre lang beriet er die Japanische Handelszentrale JETRO in Hamburg und Berlin in den Bereichen PR und Recht. Daneben lehrte er u.a. japanisches Recht an  der Universität Hamburg, an der an der Humboldt Universität in Berlin und an der Hochschule Bremen.