Kirche erforscht "Wahrheit" über sexuellen Missbrauch
Die deutschen katholischen Bischöfe wollen beim Thema sexueller Missbrauch "ehrliche Aufklärung" und "der Wahrheit auf die Spur kommen". Das sagte der Missbrauchsbeauftragte Stephan Ackermann bei der Vorstellung von zwei wissenschaftlichen Forschungsprojekten am Mittwoch in Bonn. Die Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Christine Bergmann, stellte eine weitere Studie vor, derzufolge sexuelle Übergriffe in Heimen deutlich häufiger vorkommen als in Schulen.

Die katholische Kirche will Ursachen und Umfang des sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen in ihren Einrichtungen breit aufarbeiten. Dazu öffnet die Kirche erstmals ihre Archive mit Personalakten seit 1945 auch für kirchenfremde Fachleute. In den Forschungsprojekten, die die Bischofskonferenz finanziert, solle das "dunkle Kapitel" von unabhängigen Experten beleuchtet werden, erläuterte Ackermann. Dabei sollen sowohl Opfer als auch Täter befragt werden. Mit den Studien soll auch ermittelt werden, "wie es zu den Ungeheuerlichkeiten sexuellen Missbrauchs durch Kleriker und kirchliche Mitarbeiter kommen konnte".

Opfer erhalten bis zu 5.000 Euro

Daraus werden nach den Worten des Trierer Bischofs Schlüsse gezogen und Konsequenzen für eine bessere Prävention gezogen. Erste Ergebnisse sollen in gut einem Jahr vorliegen. Diese Aufarbeitung erfolge parallel und getrennt zu der bereits angelaufenen konkreten Entschädigung von Missbrauchsopfern. Die Zahl von Opfern, die sich melden, sei inzwischen "deutlich zurückgegangen", sagte der Bischof. Konkrete Angaben dazu machte er nicht. Die Missbrauchsopfer sollen je nach Schwere des Falls bis zu 5.000 Euro erhalten.

Der Kriminologe Christian Pfeiffer wird das erste Forschungsprojekt leiten. Darin geht es Pfeiffer zufolge unter anderem um belastbare Zahlen, die Aufarbeitung des Geschehens aus Sicht der Opfer und eine Untersuchung des Verhaltens der katholischen Kirche gegenüber Tätern und Opfern. Hierzu würden in allen 27 Bistümern die Personalakten der zurückliegenden zehn Jahre, in neun Bistümern bis in das Jahr 1945 zurück untersucht. Pfeiffer leitet das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen.

Der Wochenzeitung "Die Zeit" sagte Pfeiffer, dass Missbrauchsfälle bei katholischen Priestern nicht weiter verbreitet seien als in anderen Gruppen der Bevölkerung. Es gebe "Anhaltspunkte dafür, dass die Priester im Vergleich zu Männern ihrer Altersgruppe in Deutschland unterrepräsentiert sind". Ob das Zölibat Missbrauch begünstige, lasse sich noch nicht sagen.

Vorbeugung durch Täterprofile

Das zweite Forschungsprojekt leitet der Bischofskonferenz zufolge der Direktor des Instituts für Forensische Psychiatrie der Universität Duisburg-Essen, Norbert Leygraf. Dabei solle mit Gutachtenanalysen ein umfassendes Bild von Täterpersönlichkeiten entstehen. Aus den Ergebnissen sollten Möglichkeiten zur Vorbeugung von Missbrauch abgeleitet werden, sagte Leygraf.

Der Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, Alois Glück, begrüßte das Vorgehen der Bischofskonferenz. Die Projekte seien "Ausdruck des eindeutigen Willens der deutschen Bischöfe zur entschiedenen Aufklärung der Missbrauchsproblematik", sagte er. Für den religionspolitischen Sprecher der Linkenfraktion im Bundestag, Raju Sharma, geht die katholische Kirche "damit einen wichtigen und überfälligen Schritt". Er forderte die Bischöfe jedoch auf, ergebnisoffen vorzugehen und jeden Anschein einer Relativierung zu vermeiden.

Nach Ansicht der Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung, Christine Bergmann (SPD), darf sich die von der Kirche geplante Untersuchung nicht auf Fälle aus den zurückliegenden zehn Jahren beschränken. "Das wäre aus meiner Sicht erheblich zu wenig", sagte Christine Bergmann am Mittwoch im WDR-Hörfunk. Viele Missbrauchfälle seien in den 1970er und 1980er Jahren vorgekommen.

Einer Untersuchung des Deutschen Jugendinstituts (DJI) zufolge gabe es in den vergangenen drei Jahren in 70 Prozent der Kinder- und Jugendheime Verdachtsfälle für sexuellen Missbrauch. Die Studie wurde im Auftrag Bergmanns (Foto: dpa) erstellt. Sie nannte die Zahlen erschreckend. Sexueller Missbrauch sei kein Thema der Vergangenheit, sondern der Gegenwart. Die Institutionen bräuchten daher klare Leitlinien sowie eine "Kultur des Umgangs mit dem Thema", sagte die ehemalige Familienministerin, die seit April vergangenen Jahres die bundesweite Anlaufstelle für Missbrauchsopfer leitet.

Bayern verweigerte Befragung

Für die Untersuchung befragte das DJI mit Einverständnis der Kultusminister rund 1.100 Schulleitungen, 325 Heime und 100 Internate. Bayern verweigerte unter Hinweis auf datenschutzrechtliche Bedenken die Befragung. Es sei bei der Studie nur um Verdachtsfälle gegangen, die offiziell bekannt geworden seien, sagte DJI-Direktor Thomas Rauschenbach. Eine Dunkelfeldstudie sei nicht unternommen worden. In den Heimen habe sich ein Viertel der Verdachtsfälle als haltlos erwiesen. In den Schulen hätten 20 Prozent der Verdachtsfälle arbeitsrechtliche Konsequenzen gehabt.

Wurden die Heimleitungen befragt, ob ihnen über die zurückliegenden drei Jahre hinaus ein Verdacht auf sexuellen Missbrauch bekannt sei, gaben sogar 82 Prozent dies an. Bei den Internaten waren es 69 Prozent, bei den Schulen die Hälfte. In den Heimen fand der sexuelle Missbrauch zur Hälfte außerhalb der Institution statt, zu 39 Prozent zwischen Kindern und Jugendlichen und zu zehn Prozent durch Mitarbeiter des Heims. In Internaten wurden in drei Prozent der Fälle Erzieher oder Lehrer übergriffig, in Schulen in vier Prozent der Fälle.

Heime als eine Art Ersatzfamilie

Die deutlich höheren Raten bei den Heimen erklärte Rauschenbach durch die hohe Intimität. Heime seien eine Art Ersatzfamilie für die Kinder. Rauschenbach forderte alle pädagogischen Institutionen auf, "sich anders mit dem Thema zu befassen". Sie müssten "herauskommen aus dem Abwiegeln". Bei der Frage der Prävention hätten Heime und Internate angegeben, die Fachkräfte müssten besser geschult werden. Die Schulen hingegen vertraten die Auffassung, dass die Kinder besser aufgeklärt und informiert werden müssten, berichtete Rauschenbach.

Bergmann berichtete, dass die zentrale Anlaufstelle weiter in Anspruch genommen werde. Nach Vorstellung des Abschlussberichts im Mai habe es noch einmal besonders viele Anrufe gegeben. Insgesamt gingen bislang 18.500 Briefe und Anrufe bei der Anlaufstelle ein. Sie ist telefonisch erreichbar unter der kostenlosen Nummer 0800 - 2 25 55 30.

Eine Kurzfassung der Studie des Deutschen Jugendinstituts finden Sie hier.

dpa/epd