"Sie gab ihr Leben für Freiheit und mehr Gerechtigkeit in einem von ihr geliebten Lande. Ungebrochen im Wollen mit ihr einig, tragen wir unseren Schmerz aus der Kraft Christi und vergessen nicht durch sie empfangene Güte und Freude." Mit diesen Worten verabschiedeten der Tübinger Theologieprofessor Ernst Käsemann und seine Frau ihre Tochter Elisabeth, die im Jahr 1977 von den Schergen der argentinischen Militärjunta verhaftet, gefoltert, verschleppt und mit vier Schüssen in den Rücken hingerichtet worden war.
Für die Überführung der Leiche mussten die Eltern auch noch 22.000 US-Dollar bezahlen. Denn die Junta argumentierte, Elisabeth Käsemann sei mit über zehn weiteren Untergrundkämpfern im Gefecht erschossen worden. Die Tübinger Rechtsmedizin hingegen war sich einig: Die junge Frau war aus nächster Nähe ermordet worden. Zeugen bestätigten das später.
Folterer Saenz starb während des Prozesses
Es ist eine Geschichte, die Ende der 1970er Jahre nicht zuletzt wegen des prominenten Vaters Aufsehen, aber keinen allzu großen Entrüstungssturm entfacht hatte. Aber ist sie heute längst vergessen? Keinesfalls. Denn seit dem Frühjahr 2010 bemüht sich die argentinische Justiz um Aufklärung, indem sie dem Hauptverantwortlichen des ehemaligen Folterzentrums "El Vesubio", Duran Saenz, und einigen seiner Mittäter den Prozess macht. In diesen Tagen soll nun das Urteil gefällt werden. Der Staatsanwalt fordert unter anderen zwei Mal eine lebenslängliche Haft. Freilich kommt die Strafe für Saenz zu spät. Er starb vor wenigen Wochen im Alter von 76 Jahren.
Als 1977 das Verschwinden der jungen Frau in Deutschland bekannt wurde, gab es schwere Vorwürfe gegen die damaligen Bundesregierung. Ihr seien die Wirtschaftsbeziehungen zu der Junta in Buenos Aires wichtiger als das Leben Elisabeth Käsemanns, hieß es. Im so genannten "Deutschen Herbst", in dem man vor allem mit dem RAF-Terror beschäftigt war und junge Menschen, die sich im Ausland sozial engagierten, nicht selten mit Kommunisten in einen Topf warf, konnte der 30-jährigen Studentin nur die Prominenz ihres Vaters helfen. Doch selbst diese war letztlich vergebens. Das Auswärtige Amt bestellte nach eigenen Angaben mehrmals den argentinischen Botschafter ein. Die deutsche Botschaft in Buenos Aires soll jedoch ziemlich untätig geblieben sein.
Ernst Käsemann (1906–1998), der sich als Pfarrer gegen den Nationalsozialismus engagierte, gilt als der prominenteste Schüler Rudolf Bultmanns, von dem er sich jedoch 1954 mit seinem Werk "Das Problem des historischen Jesus" absetzte und die Frage nach dem historischen Jesus neu ins Zentrum der neutestamentlichen Theologie rückte. Nach Professuren in Mainz und Göttingen war er seit 1959 bis zu seiner Emeritierung Professor in Tübingen. Während die Tochter Eva Ärztin wurde, zog es Elisabeth, Soziologiestudentin der Freien Universität in Berlin, nach Südamerika. Zuerst war sie Praktikantin in Bolivien und ging dann nach Argentinien, wo sie sich in sozialen Projekten engagierte, als Übersetzerin arbeitete und sich zusätzlich als Studentin der Wirtschaftswissenschaften einschrieb.
Der Militärputsch von 1976 unter General Jorge Rafael Vileda zeigte sehr schnell sein höllisches Gesicht: Während der siebenjährigen Diktatur wurden 2.300 Menschen ermordet, 10.000 verhaftet, 20.000 bis 30.000 verschwanden spurlos. Betroffen waren auch rund 100 Deutsche oder Deutschstämmige, von denen einige überlebten und von den schrecklichen Qualen berichten konnten, die Elisabeth Käsemann erdulden musste. 1980 stellte die Tübinger Staatsanwaltschaft allerdings ein Verfahren gegen die Mörder von Elisabeth Käsemann ein, weil die argentinischen Behören jede Zusammenarbeit ablehnten.
Das änderte sich erst, als die Militärdiktatur nicht zuletzt als Folge des Falklandkrieges von 1982 zusammengebrochen war. Zwar erhielten die Verantwortlichen Amnestie, die jedoch 2005 aufgehoben wurde. 1999 stellte der Freiburger Rechtsanwalt Roland Beckert Strafanzeige gegen die Mörder von Elisabeth Käsemann, 2001 erließ das Amtsgericht Nürnberg einen Haftbefehl gegen General Guillermo Suarez Mason wegen Mordes an der jungen Deutschen, 2003 erfolgte der Antrag, Vileda nach Deutschland auszuliefern. Alles vergeblich. Doch die Gerechtigkeit ist keineswegs immer die Unterlegene.
Bundesrepublik stellt Nebenkläger
In dem Prozess gegen Saenz und andere stellt die Bundesrepublik Deutschland einen Nebenkläger. Inzwischen hat man auch auf deutscher Regierungsseite ein großes Interesse an der Aufarbeitung des Mordes an Elisabeth Käsemann und anderer deutscher Staatsbürger. Der gegenwärtige Prozess ruft die Leiden der sozial engagierten und gewaltlosen Studentin erneut in Erinnerung - auch innerhalb der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), die sich 1977 nachdrücklich, aber erfolglos für die Studentin eingesetzt hatte. In ihrer Geburtsstadt Gelsenkirchen ist eine evangelische Familienbildungsstätte nach Elisabeth Käsemann benannt, und die bayerische Landeskirche beteiligte sich vor einigen Jahren an einer Ausstellung über sie.
Es ist wichtig zu wissen, dass die Schergen von damals von ihren Taten eingeholt und bestraft werden. Und zugleich kann dieser Prozess dazu beitragen, dass der Name Elisabeth Käsemann nicht so schnell vergessen wird. Und viele, die in den 1970er Jahren des vergangenen Jahrhunderts Bedenken gegen die "linke" Elisabeth Käsemann hatten, werden hoffentlich angesichts der unbestreitbaren Tatsachen über ihr Engagement für die Armen in Lateinamerika und ihr unbeschreibliches Leiden zumindest Scham empfinden.
K. Rüdiger Durth ist freier Autor und langjähriger Beobachter des politischen Geschehens.