100 Jahre nach Konrad Duden ist die Rechtschreibung passé
Die Bilanz zum 100. Todestag des Sprachpioniers am 1. August ist niederschmetternd: Von verbindlich praktiziertem Schriftdeutsch sind wir Lichtjahre entfernt.
11.07.2011
Von Thomas Östreicher

Wenn in Deutschland eine große Reform ansteht, braucht es etwas Zeit. Das staatliche Rentensystem - bald so marode wie die städtischen Kanalisationen -, das Wahl- und das Beamtenrecht, der Föderalismus, das Schul- und das Steuersystem inklusive groteskem Mehrwertsteuer-Irrsinn - all diese Baustellen harren geduldig ihrer Bearbeitung und versprechen auch künftigen Generationen bleibenden Erregungswert.

Ausdauernder als über all das wurde aber über die Reform der deutschen Rechtschreibung gestritten. Fast 100 Jahre lang. Als sie dann endlich beschlossen war, kochten einzelne Kultusminister erst einmal weiter ihr eigenes Süppchen, die Springer-Blätter, die FAZ und andere blieben jahrelang bei den alten Regeln, stellten dann doch Regeln und Software um und so weiter und so weiter.

Einfacher, logischer, leichter zu lernen? Egal

Nein, die alten Schlachten um die deutsche Rechtschreibreform von 1996, dem Bundestagsbeschluss von 1998 nebst reformierten Reformen von 2004 und 2006 sollen nicht noch einmal ausgetragen werden. Was immer man vom Verfahren hält - Fakt ist, dass diese Schritte die Schreibung des Deutschen einfacher, vielfach logischer und für Neulinge zugänglicher gemacht haben. Die Lehrer berichten überwiegend Positives aus ihrem Arbeitsalltag.

Das Leben außerhalb der Bildungseinrichtungen gestaltet sich weitaus unübersichtlicher. Wer heute ein Kinderbuch kauft, findet darin eine andere Rechtschreibung vor als in der "Zeit", im "Stern" und im "Spiegel". Diese großen Redaktionen haben sich intern verbindliche, eigene Regelwerke gegeben, was bei ihnen wie geschrieben wird. Mit Nachschlagewerken wie Duden, Wahrig und Brockhaus hat das nur bedingt zu tun, von den vielen literarischen Verlagen, die nicht nur Klassiker, sondern auch Neuerscheinungen stur nach alter Schreibung herausbringen, ganz zu schweigen.

Das ist weniger harmlos, als es klingt, denn es erzeugt ein unnötiges Durcheinander und schadet dem Ansehen der Rechtschreibung insgesamt. "Seit der Reform weiß eh keiner mehr, was richtig ist", tönte vor einer Weile der (orthografisch und grammatikalisch seit jeher wenig sattelfeste) Chefredakteur einer großen deutschen Illustrierten gegenüber seinen Untergebenen - und schaffte zur Freude seiner Geschäftsführer das Korrektorat komplett ab.

Die Vorlieben der Chefs gehen vor Einheitlichkeit

Auch die sogenannten Qualitätsmedien, genauer: ihre Entscheidungsträger pflegen liebevoll den Eigensinn. So sind die Journalistenkollegen der "Süddeutschen Zeitung" (SZ) per Order von oben dazu verdonnert, trotz grundsätzlicher Anwendung der reformierten Rechtschreibung weiter "potentiell" statt potenziell zu schreiben, "selbständig" statt selbstständig, "Biographie" statt Biografie und "Portrait" statt Porträt.

Die Münchner Redakteure und ihre Lektoren rollen dabei mit den Augen - und fügen sich. Die SZ-Leser wiederum, für die die Zeitung doch eigentlich gemacht wird, bleiben verwirrt zurück und behalten die Botschaft, es sei alles furchtbar kompliziert und unterm Strich wurscht.

Gerade das Beispiel der SZ macht deutlich, dass es in der Praxis nicht um Logik und Verständlichkeit geht ("selbst-ständig" ist nachvollziehbarer als "selb-ständig"). So existiert zwar eine gemeinsame Liste der deutschen Nachrichtenagenturen für all jene Fälle, in denen das amtliche Regelwerk mehrere Varianten zulässt. Doch daran halten sich lediglich die Agenturen, die quasi Rohmaterial liefern. Die leitenden Herren in den damit arbeitenden Redaktionen wollen partout ihre Marken setzen - dass das die Lesbarkeit und Benutzerfreundlichkeit ihrer Erzeugnisse verschlechtert, ist ihnen schlicht egal.

Wie zu Kaisers Zeiten

Das linke Monatsblatt "Konkret" und die Satirezeitschrift "Titanic" - sonst demonstrativ fortschrittlich eingestellt - sind gleich ganz bei der alten Rechtschreibung geblieben, als hätten wir noch einen Kaiser. Die Dauerirritation muß eben in Kauf nehmen, wer sich dort als Leser mit einem Thema befaßt. Mag's auch noch so verstaubt daherkommen.

Der größte Fehler der deutschen Jahrhundertreform war vermutlich, zu häufig mehrere Varianten von Schreibung und Interpunktion zuzulassen. Mit gelegentlichen Vorschriften wie "in dieser Satzkonstruktion kann ein Komma gesetzt werden, falls es der Verständlichkeit dient" können wir regelliebenden Deutschen offenbar nicht umgehen. Sobald wir selbst entscheiden dürfen, bricht entweder die Anarchie aus oder, noch schlimmer, die Willkürherrschaft.

Schuld am Scheitern sind damit aber nicht die Reformer, sondern die, welche die Reform missbrauchen. Man muss es leider so sagen: Der Gedanke einer verbindlichen, verlässlichen Basis für richtiges Schriftdeutsch ist so tot wie Konrad Duden.


Thomas Östreicher ist freier Mitarbeiter bei evangelisch.de.