Steuerstreit: Langweiler haben wir schon genug
In der Debatte um Steuersenkungen ist das Steuermodell von Paul Kirchhof erneut in der Debatte - und gleich wieder abgeschossen worden. "Interessant, aber nicht umsetzbar" war das Echo aus Berlin, das Medienecho tendierte in Richtung "missionarische Allesbesserwisser". Aber manchmal braucht man solche Leute.
29.06.2011
Von Ursula Ott

Hallelujah. Endlich entwirft einer ein völlig neues Steuersystem. Keine Reparaturen an den Ersatzteilen, nein, ein ganz neues Fahrzeug will der Verfassungsrechtler Paul Kirchhof bauen. Das alte fährt nämlich nicht mehr. 33.000 Normen gibt es im deutschen Steuerrecht – das versteht kein Mensch. Nein, auch kein Finanzbeamter, wie kürzlich die "Stiftung Warentest" herausfand. Selbst die Finanzämter machen reihenweise Fehler, wir Steuerzahler sowieso. "Sie können gar nicht guten Gewissens Ihre Unterschrift unter die Steuererklärung setzen", sagt Kirchhof. Denn irgendwas macht man immer falsch.

Also – weg mit dem Ungetüm. Her mit dem einfachen Modell. 146 statt 33.000 Paragrafen. Flat tax für alle. Dafür weg mit allen Privilegien für findige Steuertrickser, weg mit Containerbeteiligungen, Pendlerpauschalen und Schrottimmobilien. Ein großer Wurf.

Am Montag hat Kirchof ihn auf den Tisch - ja, tatsächlich geworfen, denn er ist überzeugt von seiner Idee. Er hat diese Leuchten in den Augen, das man nur dann hat, wenn man von etwas begeistert ist. Aber halt – das darf man nicht in diesem Land. Dann hat man gleich "etwas leicht Missionarisches", mäkelt am Dienstag die FAZ, wirkt "wie ein Missionar", plappert am Mittwoch der "Kölner Stadtanzeiger" nach, kommt sich wohl vor, als verkünde er die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, höhnte die "Süddeutsche".

Berufspolitiker können nicht unbeschwert denken

Ja und? Was wollen wir denn für Politiker? Seit Jahren beschweren wir uns, dass wir nur noch Pragmatiker im Bundestag haben, Berufspolitiker, die entweder das Leben nicht kennen oder sich nur nach aktuellen Umfragen richten. Jetzt kommt einer, der keinen Posten mehr anstrebt in der Politik und deshalb frei ist im Denken. Und dann ist es uns auch wieder nicht recht. Ist ja nur ein Professor aus Heidelberg. Da kann der sich ja dolle Sachen ausdenken, kommt ja eh nicht durch.

Erstens: Kirchhof hat sehr wohl Politiker mit ins Boot geholt. Sechs Bundesländer haben sein Gesetz getestet, und es gibt ja, allen Unkenrufen zum Trotz, auch ein paar hellsichtige Köpfe, die jetzt das Gespräch mit ihm suchen, zum Beispiel die Ministerpräsidentin von Thüringen, Christine Lieberknecht.

Zweitens: Dafür haben wir doch die Universitäten – und für die bezahle ich besonders gerne meine Steuern – dass die unabhängig vom politischen Druck neu denken. Ein Professor aus Heidelberg muss eben nicht auf die Futtermittelhersteller hören, die bei ihrem verminderten Mehrwertsteuersatz bleiben wollen. Und der kann auch mal eben mit kaltem Lächeln erklären: "Es werden drei von vier Senaten des Bundesfinanzhofes überflüssig."

Pragmatiker haben wir schon genug

Das kann kein Politiker. Dafür braucht man einen Wissenschaftler. Der kann auch mal weiter denken als bis zur nächsten Wahl. Auch unsere Professorin aus Bochum, Margot Kässmann, wird ja geliebt dafür, dass sie kühn denkt. Nicht nur an bestehenden Gesetzen und Nato-Doktrinen herumfeilt, sondern ganz neue Ideen entwickelt. Mit den Taliban beten, haha, hat auch was Missionarisches. Eine ganze "Anne-Will"-Sendung hat sich neulich an diesem Phänomen abgearbeitet. Darf man das? Ganz neu denken, ohne Rücksicht darauf, ob die Ideen gleich umsetzbar sind zwischen Fraktionszwang und emnid-Umfrage?

Ja, das darf man. Solche Menschen brauchen wir. Und wenn sie missionarisch sind, wird das ihrem Anliegen mehr nutzen als schaden. Langweiler und Pragmatiker haben wir schon genug im Land.


Ursula Ott ist Chefredakteurin von evangelisch.de und stellvertretende Chefredakteurin des Magazins chrismon.