"Engelchen flieg!", Mittwoch, 6. Juli, 21.45 Uhr im Bayerischen Fernsehen
"Dystone Athetose": klingt gefährlich. Ist es auch, hat aber in der Regel eine ganz simple Ursache: die Schädigung des frühkindlichen Gehirns durch Sauerstoffmangel; zum Beispiel, weil sich die Nabelschnur um den Hals gewickelt hat. Die Folge sind Bewegungs- und Haltungsstörungen, möglicherweise auch eine geistige Behinderung. Marlene leidet unter dieser Krankheit. Sie ist ein pfiffiges, sechsjähriges Mädchen mit kecken Zöpfen. Auf den ersten Blick wirkt sie extrem hilfsbedürftig; erst nach einer Weile erkennt man, wie viel Kraft in diesem Kind steckt.
"Engelchen flieg!" erzählt die Geschichte von Marlene und ihrer Familie. Aufgeschrieben wurde sie von ihrem Vater Werner Thal, alle anderen spielen sich selbst. Die Rolle des Vater übernahm Uwe Ochsenknecht, und er hat den schwierigsten Part. Michael verkörpert all das, was Vätern in jeder Familie widerfährt, nur noch eine Spur extremer: Durch die intensive Verbindung zwischen Mutter Hanna (Corinna Beilharz) und Tochter Pauline fühlt er sich ausgeschlossen; Sex ist schon lange kein Thema mehr. Als Hanna den Gatten eines Tages mit der Putzfrau erwischt, bricht das ohnehin fragile familiäre Gefüge in sich zusammen.
Verblüffender Humor
Thal schildert die Ereignisse ohne jede unnötige Dramatik, aber auch ohne Larmoyanz. Klar, Mutter Hanna ist völlig überfordert und balanciert permanent am Rande des Nervenzusammenbruchs entlang. Trotzdem gibt es immer wieder Momente von verblüffendem Humor, für den nicht zuletzt die vermeintlich so bemitleidenswerte behinderte Tochter sorgt. Außerdem gelingt es dem Beilharz-Trio, sich vom biografischen Ballast zu lösen: Die Handlung enthält naturgemäß eine Menge Authentizität, doch "Engelchen flieg!" ist mehr als bloß die Geschichte dieser Familie.
Trotzdem hat der Film ganz bewusst dokumentarische Züge, weil Regisseur Adolf Winkelmann und sein langjähriger Kameramann David Slama stets ganz nah an den Figuren sind. Die langen Einstellungen, die beinahe schon schamlos in Nahaufnahme Pauline zeigen, sind alles andere als indiskret, sondern geben dem Mädchen erst den Raum, den es zur Entfaltung braucht. Außerdem wechselt Winkelmann immer wieder in die Perspektive Paulines, die mit wachem Blick ihre Familie beobachtet; ihre Kommentare verraten scharfsinnige Analysen. Und das ist vielleicht das Schönste an "Engelchen flieg!": Thal erzählt von einer ganz normalen Familie. Nicht Paulines Behinderung führt schließlich beinahe zur Tragödie, sondern die übertriebene Sorge der Mutter.
Der Autor unserer TV-Tipps, Tilmann P. Gangloff, setzt sich seit über 20 Jahren als freiberuflicher Medienkritiker unter anderem für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Gangloff (geb. 1959) ist Diplom-Journalist, Rheinländer, Vater von drei Kindern und lebt am Bodensee. Er gehört seit Beginn der 1990er Jahre regelmäßig der Jury für den Adolf-Grimme-Preis an und ist ständiges Mitglied der Jury Kinderprogramme beim Robert-Geisendörfer-Preis, dem Medienpreis der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).