"Richterin Gnadenlos" starb vor einem Jahr - Ihre Idee überlebte
Jugendrichterin Kirsten Heisig wollte die Spirale von Gewalt, Respektlosigkeit und sozialer Verwahrlosung von Jugendlichen nicht hinnehmen. Vor einem Jahr nahm sich die Juristin das Leben. Was ist aus ihrem Kampf gegen Jugendkriminalität geworden?
27.06.2011
Von Jutta Schütz

Der Schock saß tief, als die prominente Berliner Jugendrichterin Kirsten Heisig vor einem Jahr, am 3. Juli 2010, nach tagelanger Suche tot in einem Wald gefunden wurde. Die 48-Jährige hatte sich erhängt. Im Kampf gegen Jugendkriminalität war die couragierte Juristin neue Wege gegangen und damit bundesweit bekannt geworden. Am 28. Juni war die Mutter zweier Töchter das letzte Mal gesehen worden, es soll auch der Tag ihres Todes gewesen sein.

Als Heisig starb, war ihr Neuköllner Modell gerade berlinweit eingeführt. Kerngedanke ist, dass kriminelle Karrieren früh gestoppt werden. Polizei, Staatsanwaltschaft, Gericht und Jugendhilfe informieren sich unverzüglich über schwarze Schafe und ihre Fälle. Das Verfahren solle binnen weniger Wochen folgen, um auf kriminelle Jugendliche bis zu 18 Jahren vor allem erzieherisch einzuwirken, betont Jugendrichter Stephan Kuperion vom Amtsgericht Berlin-Tiergarten. Strafen können Jugendarrest sein, aber auch Freizeitarbeit, ein Gespräch mit dem Opfer oder die Auflage, jeden Tag zur Schule zu gehen.

Heisig, von Kritikern auch "Richterin Gnadenlos" genannt, war für den sozialen Brennpunkt Neukölln zuständig. Dort arbeitete Jugendrichter Stephan Kuperion eng mit Heisig zusammen. Jetzt ist der 47-Jährige Koordinator für das Neuköllner Modell. Es sei gelungen, dass jeweils ein Richter Kontakt zu einer der sechs Polizeidirektionen hält. Das NKM (Neuköllner Modell) gehöre zum Ausbildungsstoff an der Polizeischule.

Psychologe: "Ich kann ihre Mailadresse nicht löschen."

Kazim Erdogan, Psychologe und Gründer der ersten türkischen Berliner Männergruppe, sagt, als Heisig starb, hatte er noch 20 gemeinsame Termine für Gespräche in Neuköllner Migranten-Vereinen mit ihr im Kalender. "Ich kann ihre Mailadresse bis heute nicht löschen, sie fehlt an jedem Tag." Zum neuen Schuljahr würden die Treffen mit Justizvertretern wieder aufgenommen, kündigt der Mitarbeiter des Jugendamtes Neukölln an.

Richter Kuperion sagt: "Kirsten Heisig könnte stolz sein. Früher haben Polizei und Justiz zwar übereinander geredet, aber nicht miteinander - jetzt haben wir ein Gemeinschaftsprojekt, um kriminelle Jugendliche zurückzuholen." Auch wenn es derzeit monatlich nur etwa 20 bis 30 beschleunigte Jugendverfahren gebe, so sei man auf gutem Wege. "Wir brauchen einen langen Atem." Er spricht von einem Baustein bei der Eindämmung der Jugendkriminalität. Für Intensivtäter, die mehr als zehn Straftaten auf dem Kerbholz haben, sei das Neuköllner Modell nicht geeignet.

Der Jugendrichter findet es gut, dass die Initiative "von unten, von der Arbeitsebene" ausgegangen sei - auch wenn damals nur Heisig öffentlich herausgeguckt habe. Sie habe mit ihrem Vorpreschen und ihrer Ungeduld auch polarisiert und sei der Behördenspitze manchmal suspekt gewesen. Aber sie sei bis zuletzt konsequent geblieben.

Das "Neuköllner Modell" ist ein Exportschlager

Laut Statistik geht die Jugendkriminalität in Berlin zurück, der Anteil mutmaßlicher Täter unter 21 Jahren an der Verdächtigen-Gesamtzahl sank zwischen 2001 und 2010 um knapp 30 Prozent. Ausgewiesen sind für 2010 aber noch 11.969 tatverdächtige Jugendliche (bis 18 Jahre). Berlins Justizsenatorin Gisela von der Aue (SPD) betont, Heisigs Idee sei ein Exportschlager. Denn nicht nur in Berlin rauben Jugendliche Handys, bespucken Lehrer oder prügeln um sich. Von der Aue will das Neuköllner Modell weiter unterstützen. Wenn die Strafe auf dem Fuße folgt, könne eine "Verfestigung krimineller Lebensgewohnheiten" unterbunden werden, sagt die SPD-Politikerin.

Kurz nach dem Tod von Heisig erschien ihr Buch "Das Ende der Geduld". Ihr drastischer Alltagsbericht löste Kontroversen aus. Immer brutalere Attacken von Jugendlichen ohne Hemmschwelle seien ein Problem in vielen Großstädten, schrieb sie. Staatliche Institutionen warteten zu lange ab. Bislang gab es 18 Auflagen und 350.000 verkaufte Exemplare.

dpa