"Ich halte einen Bürgerkrieg für ein Szenario, das wahrscheinlich ist", sagte Rüttig in einem Gespräch mit der Nachrichtenagentur dpa. Die staatlichen Institutionen seien voraussichtlich auch 2014 noch nicht ausreichend stabil. In der Bevölkerung gehe die Angst vor einem neuen Bürgerkrieg um, wie er bereits nach dem Abzug der Sowjettruppen und dem Sturz des von Moskau gestützten Regimes 1992 ausbrach.
US-Präsident Barack Obama hat angekündigt, in diesem Jahr 10.000 Soldaten aus Afghanistan abzuziehen. Bis Sommer 2012 sollen insgesamt 33.000 US-Soldaten das Land verlassen. Vom kommenden Monat an sollen die afghanischen Sicherheitskräfte schrittweise die Verantwortung für die Sicherheit des Landes von den ausländischen Truppen übernehmen.
Frühjahrsoffensive der Taliban wie jedes Jahr
Zur derzeitigen Lage in Afghanistan sagte Ruttig: "Der Trend geht nach wie vor in eine negative Richtung. Es gibt in ein paar Gegenden Fortschritte, die sich aber nicht auf die Gesamtsituation auswirken. Die wird positiver dargestellt, als sie tatsächlich ist."
Erfolge im Kampf gegen die Aufständischen hätten sich "nicht grundlegend auf die Aktivitäten der Taliban ausgewirkt". Aussagen der Nato, wonach die angekündigte Frühjahrsoffensive der Taliban nicht stattgefunden habe, weil die Aufständischen geschwächt seien, bezeichnete Ruttig als "Unsinn".
"Wir haben jetzt die Frühjahrsoffensive der Taliban", sagte der Experte. "Seit April fielen ihr vier Polizei-Provinzkommandeure und ein Provinzgouverneur zum Opfer, zwei weitere Gouverneure entkamen nur knapp. Und das sind nur die Prominenten. Erstmals trafen die Taliban mit (dem bei einem Anschlag verwundeten) Deutschen Markus Kneip auch einen Nato-General."
Kritik an der "innenpolitischen Logik" des Abzugs
Die Ankündigung der Nato, die Kampftruppen bis 2014 abzuziehen, sei ein Fehler gewesen, "weil sich dahinter nur eine innenpolitische Logik in den westlichen Staaten verbirgt". Die Annahme, bis 2014 seien Institutionen wie Polizei, Armee oder auch das Parlament ausreichend stabil, sei zu optimistisch.
"Es gibt diesen Machbarkeitswahn, wir schaffen das alles schon", sagte Ruttig. "Wie will man in weniger als vier Jahren nachholen, was in zehn zum Teil viel ruhigeren Jahren nicht geschafft wurde?" In den kommenden Jahren werde man mit Taliban zu tun haben, die auch durch zusätzliche ausländische Truppen kaum geschwächt wurden: "So schnell werden Gespräche oder Verhandlungen mit ihnen nicht greifen, auch wenn versucht wird, diesen Eindruck zu vermitteln."
Dennoch seien Gespräche mit den Taliban "die einzig sinnvolle Lösung", sagte Ruttig. Derzeit würden zwischen den Konfliktparteien "nur Kanäle eröffnet und dann hoffentlich Vorgespräche darüber geführt, worüber man eines Tages ernsthaft verhandeln kann. Es gibt keine Garantie, dass es zu Verhandlungen kommen wird, und dass diese dann zu einem positiven Ergebnis kommen. Aber man muss es versuchen. Militärisch klappt es nicht."