Jemen: "Kein Benzin, keine Gehälter, keine Regierung"
Präsident Salih hat den Jemen an den Rand des Abgrunds geführt. Das von ihm erzeugte Machtvakuum beschleunigt den Absturz. In dem arabischen Land droht eine humanitäre Katastrophe.
24.06.2011
Von Aya Batrawy und Gregor Mayer

Flüchtlingsschicksal in Aden - der einstmals eleganten britischen Kronkolonie im Süden des Jemens: "Wir haben aufgehört, Lebensmittel einzukaufen, damit wir die Miete bezahlen können", sagt die vierfache Mutter Umm Ahmed al-Gifri. Sie ist mit dem fünften Kind schwanger. Sie floh, wie rund 100.000 andere Bewohner auch, aus der benachbarten Provinz Abjan, aus der nur 60 Kilometer von Aden entfernten Provinzhauptstadt Sindschibar. Dort liefern sich seit Wochen militante Islamisten und Al-Kaida-Milizen blutige Kämpfe mit den Regierungstruppen - und die Zivilisten geraten dabei immer wieder ins Kreuzfeuer der Kombattanten.

Ein Land im Sturzflug

"Unsere finanzielle Lage ist sehr kümmerlich", sagt Umm Ahmed, "unsere psychische auch." Der Jemen, ohnehin das Armenhaus der arabischen Halbinsel, ist ein Land im Sturzflug. Der arabische Frühling hat auch dort eine Massenbewegung gegen die versteinerte Herrschaft eines seit 32 Jahren amtierenden Präsidenten in Gang gesetzt. Doch Staatschef Ali Abdullah Salih weigert sich hartnäckig abzutreten. Das Patt geht in den vierten Monat, das Machtvakuum erodiert den ohnehin nicht besonders straff organisierten Staat weiter. Der Verfall der Staatsgewalt zieht aber nur neue Stammeskonflikte und Glaubenskriege nach sich. Und vor allem neue Flüchtlingswellen.

"Der Jemen sieht sich mit einer sehr, sehr ernsten humanitären Krise konfrontiert", stellt Samir al-Darabi, Direktor des UN-Informationszentrums in der Hauptstadt Sanaa, fest. "Selbst vor dieser komplizierten politischen Krise hatten wir hier schon humanitäre Probleme." Seit Jahren schwelende Binnenkriege produzierten bereits in der Vergangenheit Flüchtlingsmassen. Allein 350 000 Menschen flohen vor den Kämpfen, die die Houthi-Revolte im Nordwesten des Landes ausgelöst hatte. Die Houthi-Stämme, die der schiitischen Zaiditen-Konfession anhängen, wollen sich vom sunnitischen Zentralstaat abkoppeln.

Konfliktherde nehmen zu

Die Armut macht die entwurzelten Bevölkerungsmassen noch verwundbarer. Rund 45 Prozent der Bevölkerung haben weniger als zwei Dollar am Tag zum Leben. Seit dem Machtvakuum in Sanaa sind neue Konfliktherde dazugekommen. In Abjan, vor der Haustür Adens, wollen extremistische Islamisten einen Taliban-Staat errichten. Die Menschen fliehen sowohl vor diesem Horror als auch vor den Kämpfen mit den Regierungstruppen, die die Provinzhauptstadt Sindschibar inzwischen den Islamisten überließen.

Manche vermuten selbst dahinter einen Winkelzug des durchtriebenen Präsidenten Salih. "Es macht keinen Sinn, dass sich das Militär praktisch über Nacht aus Abjan zurückzog und die Polizei nichts weiter tat", meint der pensionierte Polizeibeamte Asal al-Dschawi, der heute bei einer Hilfsorganisation in Aden arbeitet. Salih liegt derzeit schwer verletzt in einem Krankenhaus in Saudi-Arabien, nachdem ihm eine Granate, die in seinem Präsidentenpalast einschlug, das halbe Gesicht verbrannt hatte. Seine Leutnants sprechen dennoch von einer baldigen Rückkehr.

Anarchistische Zustände

Auch wegen solcher Ungewissheiten weitet sich die Anarchie aus. Am Mittwoch schossen sich im Hadramaut, einer weiteren unruhigen Süd-Provinz, fast 60 brandgefährliche Islamisten und Al-Kaida-Kader den Weg aus dem Zentralgefängnis in die Freiheit. Es scheint nur eine Frage der Zeit, bis die Extremisten dort eine neue Front eröffnen.

Das Chaos bietet den noch Ärmeren ein Einfallstor in den Jemen: Migranten aus den afrikanischen Elendsländern Äthiopien und Somalia. Der Zusammenbruch der Ordnung im Süden lässt sie in Booten und Kähnen über den relativ schmalen Golf von Aden kommen. Für sie ist das südarabische Land nur eine Durchgangsstation für die lange Flucht in den wohlhabenden Norden.

Doch eben wegen des Chaos stranden sie dann im Norden des Jemens, kommen auf den üblichen Schlepperrouten, die nach Saudi-Arabien führen, nicht weiter. 37 000 Afrikaner stecken allein seit Jahresbeginn im Jemen fest, teilt die Internationale Organisation für Migration (IOM) mit.

Die explosive Mischung aus inländischen und afrikanischen Flüchtlingen, die krisenbedingte Verteuerung von Lebensmitteln und Benzin und die zusammenbrechende Versorgung der Landbevölkerung multiplizieren die Nöte, an denen das Land leidet, warnt UNIC-Direktor Al-Darabi. "Die Lage für die Menschen ist schrecklich", meint auch Ex-Polizist Al-Dschawi. "Es gibt kein Benzin, keine Gehälter, keine Regierung. Das wichtigste, was wir jetzt bräuchten, wäre: ein Land."

dpa