Eigentlich war er das Beispiel für Frieden zwischen Muslimen und Christen. Er, der seit zwei Wochen im Netz nur noch "Christ" genannt werden kann, weil er und seine Familie bedroht wurden und werden. "Christ" ist koptischer Christ, geboren im Libanon. Er wuchs in Deutschland auf, studierte, kehrte vor fünf Jahren in sein Geburtsland zurück und pendelt jetzt zwischen Berlin und Beirut. "Er kennt das Zusammenleben von Christen und Muslimen und hatte im Libanon positive Erfahrungen gemacht", sagt Katrin Eigendorf, verantwortliche Redakteurin für die Website "Talk to the enemy". "Um dies in die Debatte zu bringen, habe ich ihn für das Projekt angesprochen."
Streit ist gewollt
Auf "Talk 2 the enemy" wird gestritten und polarisiert. Das soll so sein - ist sogar das Kernstück des Projekts der ZDF-Reporterin Katrin Eigendorf und der Videojournalistin Sabine Streich. "Die erste deutsche Videowebsite für Streitkultur" lautet die Eigenbeschreibung. Das Projekt hat im vergangenen Jahr den Ideenwettbewerb Scoop der Axel-Springer-Akademie gewonnen, die die Umsetzung für eineinhalb Jahre fördert. Und Feind – "enemy" – ist auch in der Religionsdebatte im Titel des Projekts geblieben, auch wenn sich viele daran stießen. "Es geht um Talk, miteinander Reden", sagt Eigendorf. "'Enemy' provoziert, aber es soll ja im positiven Sinne auch Streit geben – miteinander."
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Christ hat in der zweiten Themenstaffel mitgemacht, die seit Ende Mai läuft: "Zündstoff Glaube – Christen debattieren mit Muslimen." In der ersten ging es um "Arm gegen Reich" – mit deutlich weniger Zündstoff, weil keine wirklich Reichen mitstreiten wollten. Aber nach dem gleichen Schema: zehn Videoblogger, unterteilt in zwei gegnerische Gruppen mit je fünf Mitgliedern, stellen ihre Ansichten, Lebensweisen und Thesen zu vorher gemeinsam ausgewählten Oberthemen in Videos auf die Seite und dann wird diskutiert. Christ war in der blauen Gruppe, bei den Christen, die seit Anfang Juni nur noch zu viert sind.
"Christ" erhielt Drohanrufe aus Beirut
Und er hatte das neue Diskussionsthema "Warum verfolgt ihr uns?" eröffnet. Denn während seiner Projektzeit hatte sich die Situation für Christen im Libanon verändert – "drastisch verschlechtert", sagt Katrin Eigendorf. "Die Stimmung gegen Christen im Nahen Osten hat sich insgesamt verschlechtert." Ein Anschlag auf eine Kirche in Beirut, eine Friedhofsschändung: Das nahm Christ zum Anlass für ein Video zum Karfreitag. "Wir lassen uns nicht noch mal abschlachten. Wir werden kämpfen – mit unseren eigenen christlichen Mitteln. Friedlich." So beschreibt Eigendorf die Kernbotschaft des Videos, das sie löschen musste.
"Wir fanden den Ton absolut ok: emotional, aber nicht haßgetrieben", sagt Katrin Eigendorf. Das Video geht online. Kurz darauf bekommt Christ die ersten Drohanrufe in seiner Beiruter Wohnung, wo auch seine Frau und seine drei kleinen Kinder leben. Anrufe aus Beirut, die immer massiver werden. Dann wird eine Fensterscheibe eingeworfen. Am Himmelfahrtswochenende bekommt Christ so viel Angst, dass er das Projekt verlässt und seinen Namen löschen lässt. Auch seine Videos und Kommentare sind nicht mehr auf der Seite zu finden. "Ganz aus dem Netz verschwunden sind sie natürlich nicht", sagt Eigendorf. "Es ging aber auch um das Signal an seine Bedroher: Ich habe nachgegeben, jetzt lasst mich in Ruhe."
Alle Blogger sind besorgt
Auch die anderen Blogger haben Angst bekommen, inzwischen werden alle nur noch beim Vornamen genannt. "Es hat eine Welle des Entsetzens und der Solidarität ausgelöst", sagt Eigendorf. Blogger Sami aus der muslimischen Gruppe reagierte mit dem Video "Der Koran ist nicht gegen Christen", Banu aus der christlichen Gruppe, aber eigentlich Atheistin, fordert in ihrem Beitrag: „Die Muslime müssen sich endlich aktiv gegen Christenverfolgung einsetzen".
Die Blogger kämpfen im Projekt vehement für ihre Meinungen – und machen sich jetzt nach dem Vorfall mit Christ vor allem deshalb Sorgen. Denn viele polarisieren durch ihre Einstellungen und ihren Lebensweg. Wie zum Beispiel Barino. Der 26-jährige Kölner mit ägyptischen Wurzeln und unreligiöser Erziehung konvertierte als 18-Jähriger zum Islam, entschied dann nach einigen Jahren, dass das die falsche Religion sei und ist heute koptischer Christ. In seiner muslimischen Zeit hatte er Kontakte zu radikalislamischen Personen und Ideen und sieht insbesondere die sunnitische Glaubensrichtung sehr kritisch, was die Gewaltbereitschaft angeht.
Die virtuelle Diskussion geht weiter
Die Bedrohungen gegen Christ kamen nicht aus Deutschland – obwohl die Website durchgehend deutschsprachig ist. "Offenbar ist der interreligiöse Dialog, den wir hier machen, für einige Kreise so brisant, dass er weltweite Aufmerksamkeit hat", sagt Eigendorf. "Das hatten wir so nicht erwartet. Wir sind ja nicht einmal eine der großen deutschen Internetseiten."
111 Videos und 1142 Kommentare stehen zur Zeit auf der Seite. Aktuell wird über "Die säkulare Gesellschaft – Wer glaubt denn noch an Gott?" diskutiert. Das am intensivsten diskutierte Thema war die Frage: "Ist der Islam frauenfeindlich?". "Das ist die Kernfrage in Hinblick auf den Islam, die zwischen den Bloggern diskutiert wird", sagt Eigendorf. "Sie steht stellvertretend für viele Fragen: Wie menschenfreundlich ist diese Religion, passt sie zu Deutschland, und vieles mehr."
Radikal Religiöse wollten bei der Staffel nicht mitmachen: "Wir haben radikale Islamisten wie Pierre Vogel und auch evangelikale Christen angefragt", sagt Eigendorf. "Sie wollten nicht mitmachen – wohl, weil wirklich Radikale bei der sachlichen Auseinandersetzung mit Andersdenkenden verlieren können."
Am 7. Juli zeigt der ZDF-Infokanal um 21 Uhr eine Zusammenfassung der Staffel (Wiederholung am 16.7. um 20.30 Uhr oder online). Danach endet die Scoop-Förderung. Eigendorf und ihre Kollegin wollen die Seite aber erhalten. "Das Projekt zeigt: Es kommt viel dabei heraus, wenn man sich ungeschminkt streiten kann."
Mirjam Bunjes ist freie Medienjournalistin.