Syrien: "Christen haben von dem Regime auch profitiert"
Nach Tunesien, Ägypten und Libyen ist Syrien der nächste Unruheherd in Nordafrika und im Nahen Osten. Die Lage dort ist ungeklärt, wie lange sich Präsident Assad noch halten kann, weiß keiner. Die sunnitische Bevölkerungsmehrheit drängt jedenfalls auf Änderungen. Die Hoffnung ist, dass Syrien eher dem tunesischen und ägyptischen Vorbild als dem libyschen folgt. Ein Gespräch mit Oberkirchenrat Jens Nieper, Referent für den Nahen und Mittleren Osten im Kirchenamt der EKD, über die Lage in Syrien und die Situation der Christen dort.
22.06.2011
Die Fragen stellte Hanno Terbuyken

Syriens Präsident Assad hat in seiner jüngsten Rede den Demonstranten vorgeworfen, "im Namen der Religion" zu töten. Ist der Vorwurf gerechtfertigt?

Jens Nieper: Es ist ein Instrument, mit dem Assad versucht, nun auf einer neuen Klaviatur zu spielen. In Syrien ist es bisher so, dass die Religionen keine große Rolle gespielt haben in der innergesellschaftlichen Konfrontation. Natürlich gibt es verschiedene Religionen, das ist den Menschen dort auch bewusst, es gibt auch ein Missverhältnis zwischen der Bevölkerungsmehrheit und der Religionszugehörigkeit der Regierung. Aber das hat nach dem, was uns bekannt ist, bisher keine große Rolle gespielt. Eigentlich herrscht in der syrischen Gesellschaft seit Jahrzehnten ein Religionsfriede.

Wo kommt denn dann der Wunsch, diesen Religionsfrieden aufzubrechen?

Nieper: Ich denke, Assad merkt, dass er, der selber zur Minderheit der Alawiten gehört, einem breiten Protest der sunnitischen Bevölkerungsmehrheit gegenüber steht. Und er versucht meines Erachtens nun diese religiöse Dimension in diesen Konflikt einzuziehen, um abzuschrecken, um ein Bild aufzubauen, das die muslimisch-sunnitische Mehrheit versucht, gegen Minderheiten vorzugehen. Dazu liegen uns aber keine Informationen vor, dass diese religiöse Dimension bei den Konflikten eine Rolle spielt.

Welche Informationen liegen uns überhaupt vor?

Nieper: Die generelle Schwierigkeit ist ja, dass wir gar keine wirkliche Medienberichterstattung aus Syrien selber haben. Von daher sind uns viele Details, viele Hintergründe und Zusammenhänge gar nicht authentisch bekannt, sondern nur entweder durch das, was die syrischen Staatsmedien uns übermitteln oder was Flüchtlinge uns erzählen und Oppositionelle uns auf anderen Kanälen zuleiten. Von daher bin ich prinzipiell etwas zurückhaltend mit der Bewertung der Zusammenhänge und Vorgänge in Syrien, weil wir uns dort keine unabhängige, eigene Meinung bilden können.

"Wir können überhaupt

nicht absehen, wie sich

der Konflikt weiter entwickelt"

 

Wie geht es den Christen in Syrien?

Nieper: Sie sind eigentlich ein gut integrierter Teil der Gesellschaft, dadurch, dass sie auch keine zu kleine Minderheit sind. Den Anteil der Christen in Syrien schätzt man auf 15 bis 20 Prozent. Sie bilden wie in den meisten arabischen Staaten vor allem die gesellschaftliche Mittelschicht und sind von daher gesellschaftlich wie wirtschaftlich gut etabliert und integriert. Das Assad-Regime hat dadurch, dass es selber zu einer alevitischen Minderheit gehört, eine Politik gefahren, die Minderheiten auch mit einbezogen und bevorzugt hat. Das ist ein ganz wichtiger Aspekt für die weitere Entwicklung. Die Christen haben von dem Regime auch profitiert, nicht unbedingt, weil sie das gefordert haben, sondern weil sie dafür benutzt worden sind, in einer Minderheiten-Mehrheiten-Politik, die dazu führen sollte, dass die Alawiten ihre Macht behalten konnten.

Zehntausende Syrer sind auf der Flucht vor den Demonstrationen und Übergriffen. Wie kann man ihnen helfen?

Nieper: Nach dem, was wir wissen, ist erstmal eine ganz akute Hilfe im Bereich der grundsätzlichen Versorgung notwendig – mit Lebensmitteln, mit Kleidung. Die Menschen sind offensichtlich mit dem geflohen, was sie am Leibe hatten, beziehungsweise was sie auf die Schnelle einpacken konnten. Wir haben Berichte vorliegen von Flüchtlingen, die gerade auch im Grenzgebiet immer wieder melden, dass es dort enorme Schwierigkeiten mit Lebensmittelversorgung gibt. Wir wissen von Flüchtlingen, die versucht haben, aus der Türkei wieder nach Syrien zurückzukehren, um dort Lebensmittel zu organisieren, und die dann erlebt haben, dass das auch nicht mehr gelingt. Von daher ist das wichtigste die Grundversorgung mit Lebensmitteln und Kleidung. Dort wäre der türkische Staat zu unterstützen.

Eine Aufnahme der Syrer in Europa ist also erstmal nicht notwendig?

Nieper: Ja. Im Moment können wir noch überhaupt nicht absehen, wie sich der Konflikt in Syrien weiter entwickelt. Von daher erlaubt es die trockene und warme Jahreszeit, die Menschen erstmal in den Auffanglagern in der Südtürkei unterzubringen und darauf zu hoffen, dass zum eine zeitnahe Befriedung in Syrien stattfindet und damit auch eine Rückkehr der Flüchtlinge möglich ist. Man muss ja sehen: Diese Menschen fliehen nicht, weil sie auf Dauer weg sein wollen, sondern sie fliehen einfach, weil sie Angst um Leib und Leben haben und natürlich wieder zurückkehren wollen, wenn wieder Frieden ist.

Kann man abschätzen, ob der Sturz des Assad-Regimes etwas an dem Schutz von Minderheiten ändern würde - wenn nämlich der Regierungschef nicht mehr selbst aus einer Minderheit im Land kommt?

Nieper: Die Gefahr besteht offensichtlich. Ich habe am Rande des Kirchentages mit Kirchenvertretern aus Syrien sprechen können, die diese Befürchtung haben, weil es genau diese Verbindung des Assad-Regimes mit den Minderheiten und damit eben auch mit der christlichen Minderheit gibt. Bisher ist diese Dimension in den Protesten noch überhaupt nicht aufgetaucht, zumindest ist sie uns nicht so übermittelt worden. Das ist ein hoffnungsvolles Zeichen, dass es wirklich um eine Demokratisierung geht, um eine Veränderung der Strukturen im Lande und nicht um ein Gegeneinander einer sunnitischen Mehrheit gegen die Minderheiten. Die Hoffnung bleibt also, dass das so bleiben kann. Die Befürchtung ist aber, dass das auch missbraucht werden könnte, umkippen könnte. Von daher halte ich einige Anmerkungen von Assad, die in seiner Rede vom Montag abend gefallen sind, für gefährlich, weil sie in Richtung einer innergesellschaftlichen Aufspaltung missbraucht werden können.

"Für Israel ist

die Demokratisierung

von großem Interesse"

 

In Libyen hat die internationale Staatengemeinschaft "zum Schutz der Zivilbevölkerung" militärisch eingegriffen. Nun gibt es in diese Notwendigkeit offenbar auch in Syrien. Was kann die internationale Staatengemeinschaft tun?

Nieper: Das militärische Eingreifen ist immer ein Scheitern aller anderen politischen Möglichkeiten. Von daher bin ich dafür, jedes andere Instrument erst einmal zu nutzen. Im Falle Syrien und im Falle Libyen sind die Zusammenhänge ganz andere. Man muss für Syrien die Gemengelage bezüglich der Nachbarstaaten noch einmal deutlich mit in den Blick nehmen, insbesondere den Libanon, der im Moment doch äußerst fragil ist, und auch die direkte Nachbarschaft zu Israel.

Es steuert auch dort auf ein Dilemma hin, ähnlich wie in Libyen. Wenn man nicht militärisch eingreift, wird man natürlich riskieren, dass die Gewalt an der Zivilbevölkerung weitergeht, vielleicht eskaliert. Wenn man militärisch eingreift, riskiert man aber, in einen Konflikt einzusteigen, bei dem man eigentlich nicht absehen kann, wohin dieser führt. Diese Problematik sehe ich auch beim Einsatz in Libyen. Dort hat man etwas begonnen, bei dem nicht deutlich ist, wo es eigentlich hinführt und wie es enden könnte. Von daher glaube ich, dass man bezüglich militärischer Optionen noch deutlich sensibler sein müsste und sich das sehr genau überlegen sollte.

Sie haben Israel erwähnt, die direkte Nähe Syriens zum Nahostkonflikt. Könnte eine Demokratisierung Syriens einen positiven Impuls für den Frieden im Nahostkonflikt geben?

Nieper: Ich denke, dass eine Demokratisierung der arabischen Staaten ein längerer Prozess ist. Die wirklichen Veränderungen sind nicht einfach durch einen Regimewechsel erledigt. Wir sehen es gerade in Ägypten, dass mit der Entmachtung Mubaraks noch nicht automatisch völlig andere Verhältnisse in Ägypten herrschen. Israel hat Angst vor diesen Umstürzen, weil sie erstmal eine Unberechenbarkeit der Nachbarn bedeuten. Wir haben in Ägypten gesehen, dass das neue ägyptische Regime zum Beispiel bezüglich der Isolierung des Gaza-Streifens eine Lockerung bewirkt hat.

Für Israel wird es schwierig, wenn die Umbrüche weiter voranschreiten, weil die Nachbarn damit erst einmal unberechenbar werden. Deshalb setzt Israel fatalerweise auf das Weiterbestehen der alten Regime, weil damit Strukturen und Zusammenhänge erst einmal gewahrt bleiben konnten – gerade auch das Bild, von lauter Feinden umgeben zu sein. Langfristig glaube ich, dass es für Israel aber von großem Interesse wäre, wenn es zu einer Demokratisierung im Nahen Osten käme.

Welche Form könnte diese Demokratisierung denn haben?

Nieper: Ich glaube auch, dass wir uns darauf einstellen müssen, dass dort ganz andere Formen von Demokratie entstehen könnten, die nicht einfach identisch sind mit unseren westeuropäischen und westlichen Modellen, sondern eine neue Form von Demokratie, die der Gesellschaft in den arabischen Staaten angepasst ist. Und von daher glaube ich, dass wir auf der einen Seite diese Prozesse unterstützen und begleiten sollten, aber uns damit zurückhalten sollten, sie zu sehr lenken und beeinflussen zu wollen.


Jens Nieper ist Theologischer Referent im Kirchlichen Außenamt der EKD, zuständig für den Nahen und Mittleren Osten und Stiftungen im Heiligen Land.