Berlin im Jahr 1987. Der Engel an der Spitze der 69 Meter hohen Siegessäule am Großen Stern wird zum Treffpunt für Flügelwesen. Oben, auf dem Arm der Göttin, sitzt Bruno Ganz als Engel Damiel und schaut nachdenklich auf die Bewohner Berlins hinab. Er kann ihre Gedanken lesen und fühlt mit ihnen. Damiel fühlt sich unglücklich als Engel, er möchte ein Mensch sein. Und so springt er hinab, mitten hinein in das Leben der damals noch geteilten Stadt. Der goldene Engel auf der Siegessäule, von den Berlinern keck "Goldelse" getauft, erinnert noch heute an Wim Wenders' meditatives Meisterwerk "Der Himmel über Berlin".
Die "Goldelse" wacht noch immer
Engel spielen in diesem Kultfilm die Hauptrolle. Nicht nur, weil derjenige über der Siegessäule so unvergesslich über dem Berliner Himmel schwebt. Engel stehen hier auch für Wesen, die für uns Menschen unüberwindbare Grenzen durchbrechen können. Auch heute, im wiedervereinten Deutschland, wacht die "Goldelse" über dem Berliner Himmel. Noch immer passiert unter ihr viel. Es wimmelt von Leuten. Will man zu Viktoria hoch, die in frischem Blattgold glänzt, muss man leiden. Die Besucher erklimmen schwer atmend 285 Stufen, Tritt für Tritt bis zum Ziel. Dann, endlich oben: Kopf recken. Staunen. Innehalten.
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Engel. Auf den Schwingen der antiken Mythologie und des christlichen Glaubens sind sie in Berlin gelandet und wurden dort zu Marmor, Stein und Metall. Berlin ist eine Stadt der Engel. Eine, die täglich auf ihren Spuren geht, ist die Fotografin und Stadtführerin Tina Knaus. An diesem Sommertag treffen sich Interessierte zu ihrer Stadttour "Engel sterben nicht". Der "City-Angel", wie sich Tina Knaus nennt, führt seine Gäste per Bus und zu Fuß erst zu Friedhöfen. Einige der Engel dort wirken, als müssen sie sich ausruhen oder schlafen schon, andere scheinen auf jemanden zu warten. Sie sind bedeckt mit Moos und vom Staub der Gezeiten.
Besonders angetan hat es Tina Knaus ein Engel auf dem Sophienfriedhof. Vom Abendlicht angestrahlt, glüht er rötlich. Still hält er eine Rose in der Hand. Leblos aber ist er nicht. Er könnte viel erzählen. Vom Friedhof an der Bernauer Straße, der zu Mauers Zeiten geteilt war. Von neuen Gräbern in einer neuen Zeit. Tina Knaus nächste Flügelwesen stehen auf dem Berliner Dom und der Schlossbrücke. Ihren Erzengel Michael findet sie über dem Portal der Friedrichwerderschen Kirche. Sie führt die Gruppe auch zum Konzerthaus auf dem Gendarmenmarkt, auf dem der geflügelte Apollo auf seinem Sonnenwagen thront. Am Potsdamer Platz erzähle sie die "Himmel über Berlin"- Geschichte, weil dort Damiel den alten Potsdamer Platz sucht und nicht finden kann.
Der Rafael der Hinterhöfe
In der Neuen Nationalgalerie wohnt der "Engel der Geschichte". Tina Knaus erzählt auch Skurriles, so zum Beispiel, dass Heinrich Zille von den Berlinern "Rafael der Hinterhöfe" genannt wurde. Während ihrer Tour durch Berlin berichtet sie, dass es ganz unterschiedliche Kategorien von Engeln gibt: die Verkünder des Heils und Wächter über das Paradies, die Mittler zwischen Gott und dem Mensch, die Beschützer in höchster Not und die Begleiter in den Tod, die Bewacher nach unserem Ableben und die gefallenen Egel, der sich von Gott abwenden.
Ganz von dieser Welt sind die Engel, die in den Ateliers der Gipsformerei in Charlottenburg angefertigt werden. Der Boden dort ist gipsbestäubt, die vielen Regale sind vollgestellt mit fertigen Abdrücken. Rund um die Uhr werkeln hier Künstler an ihren Repliken, geschaffen nach dem Vorbild von Originalen aus allen Kulturepochen. Jeder kann sich hier seinen Engel bestellen. Die Gipsformerei, die 1819 als Königliche Gipsformerei gegründet und 1830 dem Verband der Preußischen Museen eingegliedert wurde, ist ein Besuchermagnet. Neben dem Atelier de Moulages des Louvre ist sie die weltgrößte derartige Institution. Die Gesichtsausdrücke der Engel, die neben Statuen und Reliefs stehen, sind mal kindlich naiv, streng oder trotzig. Die Schwingen mal kräftig, fragil oder nur in Ansätzen vorhanden.
Wenn es darum geht, in Berlin auf den Spuren der Engel zu wandeln, muss man sich nur in die Kreativszene begeben. In diesem Fall unter Street-Art-Künstler nach Kreuzberg. Der Spanier Cecare C. gehört zu jenen, die mit ihren Graffitis und Klebekunst in der Stadt ihre nächtlichen Spuren hinterlassen. Er macht sie zu einer begehbaren Outdoorgalerie. Religion ist seit jeher ein Thema unter seinen Motiven. In seiner Kunst, die ihren Ursprung in der Straßenmalerei im Italien des 16. Jahrhunderts hat, mischen sich immer wieder Engel. Einer ziert den Rollladen eines Geschäfts am Oranienplatz, ein anderer die Mauer in der Naunynstrasse 60. Cecare C. ist überzeugt: "Berlin braucht Engel. Es gibt eine Sehnsucht nach einem Kontrast zur heutigen Verweltlichung."
Im "Würgeengel" ist es warm
Die Berliner Kultur ist geradezu durchzogen mit Reminiszenzen an die Engelsgestalten. Marlene Dietrich schaffte 1930 den Durchbruch in Josef von Sternbergs "Der blaue Engel". Eine der bekanntesten Videos der Berliner Band Rammstein heißt "Engel". Die Anhänger der Gothic-Kultur, die sich im Duncker-Club in Pankow treffen, verehren den schwarzen Engel. Die Berliner Gruppe "Grotest Maru" stolziert mit Flügelaufsatz durch ihre Kunst-Performances und in der Berliner Gemäldegalerie wimmelt es von Himmelsgeschöpfen.
Engel, das sind nicht nur Mittler zwischen dem Göttlichen und dem Irdischen, die in einem Zwischenbereich leben, sondern oftmals auch Erdlinge aus Fleisch und Blut. Sie tragen Alltagskleidung, arbeiten an der Supermarktkasse, putzen oder arbeiten in Kneipen. Wie dem "Würgeengel" in Kreuzberg. Dort trifft man im doppelten Sinne auf Engel. Die nach dem gleichnamigen surrealistischen Film von Luis Buñuel benannte Bar befindet sich in der Dresdener Straße 122, weit weg vom rauhen Kottbusser Tor und den schicken Künstler-Lofts.
Sobald man zur Türe eintritt, schlägt einem nicht das von Gott verstoßene Biest Lucifer entgegen, sondern eine wohlige Wärme. In dem früheren Kolonialwarenladen trifft sich der Kiez, man kennt sich. Die Worte, die fallen, sind herzlich, der Umgang vertraut. Aus den Gesprächen ist herauszuhören: Gemeinsam hat man einiges durchgestanden. Die Hausbesetzerphase und die triste Zeit im toten Winkel der Mauer in den 80ern, jetzt die Gentrifizierung von Kreuzberg. Aber die Menschen, die hier im "Würgeengel" im Schummerlicht reden, scheinen sich im Alltag gegenseitig zu tragen.
Zu diesem Ort passen Worte des Christen Wim Wenders über die Rolle der Engel. Sie stammen aus seinem Text zum Buch zur Ausstellung "Flügelschlag - Engel im Film" im Filmmuseum Berlin aus dem Jahr 2004: "Ich hatte in ihnen die bestmöglichen Fremdenführer, Pfadfinder, Mittler, Boten gefunden, um auf dieser Entdeckungsreise in das Herz Berlins den Weg nicht zu verlieren. Engel sind subversiver als Teufel, Satansbraten und Höllengespenster. Die machen nur Angst, und Angst kann man abschütteln. Engel hingegen zeigen uns die besseren Menschen, die wir sein könnten. Und das kann in der Tat furchterregend sein, weil es unser Versagen oder unseren Kindheitsverlust schmerzhafter spürbar macht."
Vera Rüttimann arbeitet als Autorin und Fotografin in Berlin und Zürich.