Wenn Aisha Saifi in ihrem klapprigen Renault morgens zur Arbeit fährt, dann kann das eineinhalb Stunden dauern. Es sind zwar keine 20 Kilometer von Ramallah nach Ost-Jerusalem. Aber die Hauptstraße, die die beiden Städte verbindet, wird seit Jahren auf halber Strecke durch den Checkpoint Qalandia unterbrochen. Nach Ost-Jerusalem werden Palästinenser nur hineingelassen, wenn sie eine entsprechende Genehmigung haben. Morgens stauen sich an Werktagen Hunderte von Autos mit Pendlern wie Aisha Saifi.
Wir treffen uns in Ost-Jerusalem vor dem Krankenhaus, wo sie gerade ihre Schicht als Geburts-Krankenschwester beendet hat. "Es ist frustrierend für diejenigen wie mich, die zur Arbeit wollen", sagt sie. Schlimmer und oft lebensgefährlich wird die Warterei am Checkpoint aber für Frauen, die in den Wehen liegen. Über hundert Frauen seien in den letzten Jahren am Checkpoint gestorben, weil die Verladung von einem ins andere Ambulanzfahrzeug zu lange dauerte, klagt Aisha Saifi.
Hinein darf offenbar jeder
Das Dorf Qalandia liegt 20 Minuten Autofahrt vom Ost-Jerusalemer Damaskustor entfernt und beherbergt linkerhand das gleichnamige Flüchtlingslager. Auf der Haupstraße errichtete die israelische Besatzungsarmee vor der Unterzeichnung der Osloer Vereinbarungen von 1994 auf einmal einen Checkpoint, der in den Jahren danach zu einem riesigen Grenzterminal ausgebaut wurde. Er symbolisiert das ganze Elend von Besatzung und israelischer Kontrolle über die Palästinenser.
Aisha fährt im Auto an der drei, vier Meter hohen Mauer entlang, kurz darauf kommt ein Komplex aus Straßen, Beton, Stacheldraht, Hightech-Kameras und schwer bewaffneten israelischen Soldaten. Zwischen die Uniformierten haben sich Bewaffnete in Zivilkleidung gemischt, die vermutlich von privaten Sicherheitsfirmen stammen. Sie tragen graue Khakihosen, dunkelblaue Schusswesten und Flieger-Sonnenbrillen. Jeder hat den Finger am Anzug seiner Uzi. Die Einreise Richtung Ramallah verläuft außer dem Stop-and Go problemlos. Rein darf offenbar jeder.
Und das ist das designierte "Palästina", das zu einem Staat werden soll? Der erste Eindruck: deprimierend. Denn der Landstrich entlang der mit Graffiti verzierten Mauer ähnelt eher einem Elendsviertel als einem Gebiet, in dem man sich auf eine Staatsgründung vorbereitet. Ein gutes Dutzend armselig gekleideter Gestalten hüpfen in die Zwischenräume, die die hintereinander herkriechenden Autos offen lassen, und versuchen, Fahrern und Passagieren etwas zu verkaufen: von zerknitterten Fähnchen des FC Barcelona über in der Hitze zerrinnende Schokoladenriegel bis hin zu gebrauchten Jeans. Aber niemand öffnet die Tür oder das Fenster.
Ein Wachstum von 9,3 Prozent?
Immer wieder gehen Zahlen durch die Presse, die die Westbank als die am schnellsten wachsende Wirtschaft der Welt zu untermauern versuchen, noch vor China und Indien. Ein Bericht der Weltbank nennt ein Wachstum 9,3 Prozent im Jahr 2010. Hier auf jeden Fall nicht, und auch nicht die nächsten fünf Kilometer Richtung Ramallah. Tonnenweise Müll säumt die von Schlaglöchern zerfressene Straße. Staub und der Gestank von verbranntem Plastik prägen die Wahrnehmung.
Ganz anders stellt sich das aufgeräumte Ramallah dar – Neubauten überall, Baukräne, Betonmischmaschinen, bunte Werbetafeln auf Arabisch und Englisch, sogar aufmerksame Verkehrspolizei. Ost-Jerusalem, das die palästinensische Hauptstadt werden soll, ist gegen das pulsierende Leben hier in Ramallah ein Museumsdorf. Ein Grund dafür wurde vor ein paar Tagen in der israelischen Presse bekannt. Denn die Behörden haben Palästinensern Ost-Jerusalems und der Westbank zwischen 1967, dem ersten Jahr der Besatzung, und 1994 systematisch die Aufenthaltserlaubnis entzogen.
Dass sie eine solche brauchten, ist so oder so absurd. Die Rede ist jedenfalls von 140.000 Menschen, fast 15 Prozent der palästinensischen Bevölkerung. Gleichzeitig verschärften die israelischen Regierungen die jüdische Besiedlung Ost-Jerusalems. Wer nach 1994 zurückkehren konnte, auch wenn er aus Jerusalem stammte, zog notgedrungen nach Ramallah und darf nicht mehr nach Ost-Jerusalem reisen.
Aisha Saifi und ihr Mann Khaled Saifi, der als Chirurg arbeitet, gehören zu den Glücklichen, denen die israelischen Behörden die Überquerung in die "Hauptstadt" erlauben.
"Fayyadismus": Starke Polizei und freier Markt
Das Ehepaar lernte sich in einem Krankenhaus kennen. Das älteste ihrer vier Kinder, eine Tochter, besucht die Hebräische Universität in Jerusalem. Die Familie ist wohlhabend und kann sich "unabhängiges Denken und internationale Kontakte leisten", sagt Khaled Saifi etwas verlegen. Er hatte in den 70er Jahren mithilfe eines Stipendiums in der Sowjetunion Medizin studiert. Der Partei-Kommunismus sei "ein großer Fehler" gewesen, sagt er, der selbst in der palästinensischen Bruder-KP war.
Auch Aisha wuchs in der damals durchaus verbreiteten linken palästinensischen Kultur auf. Heute engagiert sich das Ehepaar im Gesundheits- und Gewerkschaftsbereich – "unabhängig von Fatah und Hamas", wie Aisha betont. Der Weg, den die Parteien und die Palästinensische Autonomiebehörde eingeschlagen haben, führe zu nichts.
Gemeint ist eine Strategie, die gemeinhin als "Fayyadismus" bezeichnet wird, benannt nach dem palästinensischen Strategen Salam Fayyad. Der 59-jährige Wirtschaftswissenschaftler, der in den USA studiert und als Banker gerabeitet hatte, war von 1995 bis 2001 der Beauftragte des Internationalen Währungsfonds IWF in der Westbank und Gaza. Heute ist er der Mann hinter den Kulissen. Fayyads Entwicklungsstrategie, die in einen Staat münden soll, besteht erklärtermaßen aus drei Elementen: eine einzige, starke Polizeimacht, Korruptionsbekämpfung und freie Marktwirtschaft.
1000 Infrastrukturprojekte
Eine Fahrt durch das Zentrum von Ramallah bestätigt auf den ersten Blick die erfolgreiche Strategie Fayyads: ein pulsierender Busbahnhof, blitzblank geputzte Scheiben des jüngst eröffneten "Mövenpick"-Hotels, hier und dort ein Mercedes im Verkehr. Unter Fayyads Regie und unter dem Applaus von UNO, Weltbank und IWF sind mehr als 1000 Infrastrukturprojekte in Gang gesetzt worden. "Aber leider nicht da, wo sie zur eigenständigen Entwicklung eines unabhängigen Staates beitragen würden", kritisiert Khaled Saifi, und nennt die Landwirtschaft und den Tourismus als "die beiden einzigen Bereiche, in denen Palästina etwas zu bieten hätte".
Der aus Chicago stammende Geschäftsmann Sam Bahour, der seit 16 Jahren in Ramallah lebt, hat in Eigenregie mit der "Palestine Telecommunications Company" die erste private regionale Telekommunikationsfirma aufgebaut. Der 49-Jährige Schnurrbartträger ist Millionär – und Idealist. Auch er kritisiert die palästinensische Entwicklungsstrategie Fayyads als unzureichend, da sie die israelische Besatzung, den Landraub und die Siedlungspolitik in der Westbank "ignoriert". Bahour nennt mit internationaler Unterstützung geplanten "Industriezonen" schlicht "Wirtschaftsgefängnisse".
In den Dörfern Armut und Arbeitslosigkeit
Die freie Wirtschaftszone Al-Dschalama im Norden der Westbankstadt Dschenin soll beispielsweise mit Geldern der deutschen KfW-Entwicklungsbank und unter türkischer Beteiligung entstehen. "Aber dafür müssen Bauern fruchtbares Land aufgeben", kritisiert Bahour und fragt, "sollen die dann in den Montagehallen für irgendein Produkt, das exportiert werden soll, für einen Hungerlohn schuften?"
Und überhaupt, so Bahour, seien die Zahlen, die das Wirtschaftswunder Westbank belegen sollen, "völlig schief". Denn das angebliche Gesamtwachstum liege ausschliesslich am Boom in Ramallah, der auf Hunderten von Millionen Dollars und Euros aus dem Ausland finanziert werde. Die Wirtschaftsentwicklung sei "ungleich". In den Dörfern außerhalb Ramallahs würden Armut und riesengroße Arbeitslosigkeit herrschen.
Vom weiträumigen Terrassenbalkon der Saifis aus ergibt sich ein wunderschöner Panoramablick auf die Hügellandschaft der Westbank. Im Vordergrund erleuchten Flutlichter einen Fußballplatz mit Stadion. "Der wurde von Fayyad neu gebaut", erläutert Aisha Saifi, "überall in der Westbank entstehen Fußballplätze". Wozu, das weiß sie auch nicht. Sam Bahour meint dazu eher zynisch, die Stadien würden gebaut, um sie ausländischen Delegationen als Erfolge zeigen zu können. Immerhin - ab und zu wird darauf auch gespielt.
Max Böhnel ist freier Journalist.