Die EU als Wandergruppe: "Na gut - wir tragen deine Last"
Pfarrerin Angelika Olbert vergleicht die europäische Staatengemeinschaft mit einer Wandergruppe. Wenn einer nicht mehr kann, haben die anderen zwei Möglichkeiten: ihm helfen - oder ihn sitzen lassen. Olbert wirbt in ihrer Morgenandacht für Solidarität mit Griechenland. Die Andacht wurde am 17. Juni unter der Rubrik "Gedanken zur Woche" im Deutschlandfunk gesendet.
17.06.2011
Von Pfarrerin Angelika Obert

Alle haben sich für die Idee begeistert: Gemeinsam wollen sie den höchsten Berg in der Region besteigen. Zusammen werden sie das schon schaffen, die geübten und die ungeübten Wanderer. Und einen Rieseneindruck machen auf die Kollegen in den anderen Abteilungen. Aufbruch im Morgengrauen, fröhlich und lautstark. Einige machen Witze über Helenas gigantischen Rucksack und darüber, dass Klaus so übernächtigt aussieht. Aber wird schon, geht schon – so machen sie sich auf den Weg.

Nach einer Stunde des Bergaufwanderns fängt Helena an zu stöhnen. Sie kann nicht mehr. Viel zu schwer ihr Gepäck. Man muss ihr helfen, will aber nicht so recht. Die andern haben auch zu schleppen. "Na gut, wir tragen deinen Proviant und deine Wasserflaschen", heißt es schließlich. Aber dafür werden wir sie auch austrinken. So geschieht's, Helena geht leer aus bei der Rast. Stocksauer und total erschöpft kriegt sie einen Heulkrampf.

Gründlich zerstritten ins Tal zurück?

"Aber sie ist doch selber schuld!", murrt man in der Gruppe. "Sollen wir ihr noch mal helfen? Wo sie sich so daneben benimmt?" "Müssen wir doch", meinen einige. "Wir hätten sie nie mitnehmen dürfen!", protestieren andere. "Am besten lassen wir sie hier sitzen." "Na ja", lässt sich der müde Klaus vernehmen. "Ich hab ja auch keine Kraft mehr." Die Stimmung sinkt, die Zeit verstreicht – und noch ist ungewiss, ob die Truppe irgendwann zerzaust und angeschlagen den Gipfel stürmt oder ob sie gründlich zerstritten ins Tal zurückschleichen wird.

Das hätten wir natürlich anders gemacht, wenn wir mit Klaus und Helena zu einem gemeinsamen Ausflug aufgebrochen wären. Wir hätten nur leise geflucht und dann gleich versucht, die Lasten vernünftig zu teilen und mit langsamerer Gangart und mehr Schweiß doch noch zum Ziel zu kommen. Wanderer können sehr hilfsbereit untereinander sein.

Aber wenn es gar nicht ums Wandern mit Freunden geht, sondern um eine ganze Völkergemeinschaft, die die Lasten eines Landes mittragen soll, das am finanziellen Abgrund steht – dann sieht das schon ganz anders aus. Was geht uns das griechische Desaster an? fragt man sich in Holland, in Finnland und auch in Deutschland. Schulden haben wir selbst schon genug. Alle streiten durcheinander, die Zeit verstreicht. Das lange Zaudern und alle Vorhaltungen ändern aber nichts daran, dass man nun mal gemeinsam unterwegs ist und in jedem Fall mit drinhängt.

Spannkraft auch nach dem pfingstlichen Aufbruch

Gewiss ist das Dilemma der Euroländer angesichts der griechischen Schuldenkrise sehr viel komplizierter als die Geschichte vom gemeinsamen Ausflug. Aber auch hier wäre zu bedenken, dass man etwas leichtfertig und unbedacht miteinander aufgebrochen ist und darum auch gemeinsam Verantwortung trägt für die Krisen unterwegs. Es trifft auch zu, dass die starken Staaten an dem gemeinsamen Unternehmen viel mehr Freude hatten als die schwächeren. Und dass sie sich nun nicht gleich als die großen Verlierer fühlen müssten, wenn jetzt auch für sie der Weg mühsamer wird. Vor allem aber müsste doch jeder im Team wissen, dass man gerade in Krisen das gemeinsame Ziel nicht aus den Augen verlieren darf. Gerade wenn ein Spieler schwächelt, ist Mannschaftsgeist gefragt.

Die Vision der Europäischen Gemeinschaft, die einst unter dem Motto "In Vielfalt geeint" angetreten ist – der Berliner Bischof Markus Dröge hat sie am vergangenen Sonntag "wahrhaft pfingstlich" genannt (1). Wenn die Zeit des tosenden Aufbruchs vorbei sei, brauche die Seele Spannkraft, gestärkt durch einen Geist, der auch Spannungen kreativ umsetzen kann, so der Bischof. Wir sollten uns begeistern können für die Chance, in Europa beispielhaft voranzugehen im friedlichen und solidarischen Zusammenwirken der Völker. Müsste uns das nicht jede gemeinsame Anstrengung wert sein – vor allem im Gedanken daran, dass auch wir zu Zeiten andern Lasten aufgebürdet haben?

Oder sind wir einfach nur die Dummen, wenn wir um des gemeinsamen Ziels willen Risiken auf uns nehmen, die uns erspart blieben, wenn wir mit unserer soliden Ausrüstung allein unterwegs wären? Wie viel ist die gemeinsame Vision wert?


(1) Bischof Dr. Markus Dröge, Predigt im Pfingstgottesdienst, Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, Berlin, 12. Juni 2011 über Johannes 16, 5-15.

Angelika Obert (Jahrgang 1948) ist seit 1993 Rundfunk- und Filmbeauftragte der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz. Sie ist für die evangelischen Hörfunk- und Fernsehsendungen beim Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb) verantwortlich. Nach dem Studium der Evangelischen Theologie und der Germanistik besuchte sie eine Schauspielschule, bevor sie Pfarrerin wurde. Als Autorin gestaltet sie auch Sendungen für den Deutschlandfunk und Deutschlandradio Kultur.