Von "PR-Gag" bis "Befreiung": Die Presse über Wowi 2001
Vor genau zehn Jahren bekannte sich Klaus Wowereit als erster deutscher Spitzenpolitiker öffentlich zu seiner Homosexualität. Trotz heftiger Diskussionen darum wurde er Tage später zum Regierenden Bürgermeister Berlins gewählt. Unbestritten ist: Der mutige Schritt des Sozialdemokraten hat unsere Gesellschaft verändert, wie auch die damaligen Reaktionen zeigen.

Schwul sein ist kein Verdienst
"Was wollte Wowereit der deutschen Öffentlichkeit damit sagen? Schon seit vielen Jahren ist gerade diese Veranlagung enttabuisiert - zumal in Berlin. Hinzu kommt, dass die privaten sexuellen Neigungen und Passionen von Politikern, solange sie nicht gegen Gesetze verstoßen, wenig über deren Amtsqualifikation und Sachkenntnis aussagen. Kurzum - sie sind schlicht uninteressant. Stellt sich die Frage, was Wowereit zu seinem Outing getrieben hat. Entweder ist er selbst spießig-kleinbürgerlich, oder er schätzt die Berliner so ein. (…) Noch näher aber liegt, dass der PR-Gag "ich bin schwul" von der eigentlichen Sachauseinandersetzung über den historischen Wortbruch der Berliner SPD in Sachen Kumpanei mit den SED-Nachfolgern hinwegtäuschen soll. Schön dumm, wer darauf reinfällt." 

Helmut Markworts Tagebuch
"Homosexuelle in der deutschen Politik sind keine Innovationen."

Leserbriefe
"Zum Ausspruch des derzeit regierenden Bürgermeisters von Berlin und Kandidaten der SPD im kommenden Herbst Klaus Wowereit: "Ich bin schwul - und das ist auch gut so" möchte ich nur sagen: Milliarden von Menschen auf der Welt sind nicht schwul - und das ist besser!"

"Es ist schon eine bedenkliche Entwicklung, wenn Personen des öffentlichen Lebens zunehmend versuchen, sich nur über ihre Sexualität darzustellen. Welche sexuellen Vorlieben jemand hat, hat nun wirklich nichts mit dessen beruflichen Fähigkeiten zu tun. Klaus Wowereit hat zwar mit seiner Aussage große Aufmerksamkeit auf sich gezogen, aber reicht das aus, um auch als Regierungschef von Berlin tätig zu sein?"

"Klaus Wowereit täte gut daran, nicht mit seiner Homosexualität medienwirksam zu kokettieren, sondern sich das Grundgesetz und die Bibel näher anzuschauen."

Franz Josef Wagner: Ich bin leider nicht schwul und Gott sei Dank in keiner Talk-Show
"Der Höhepunkt meiner fiebrigen Woche war allerdings der Bundesverdienstkreuz-Anwärter für sein Outing als Schwuler, der via Misstrauensvotum neue Bürgermeister von Berlin, Klaus Wowereit. Er war der umjubelte 'running gag' jeder Talk-Show. Nunwohl, 'être absolument moderne' ist der spezifische Ehrgeiz des zeitgenössischen Kleinbürgers. Was für ein verklemmter Typus. Viele großen Geister waren schwul. Was ist daran modern, Herr Wowereit?"

Wowereits Worte
"Er zwingt damit Wählern und Politikern eine politische Debatte über etwas zutiefst Unpolitisches auf. Auch wenn das Private und das Politische aus ganz unterschiedlichen Motiven immer weniger voneinander getrennt werden - einige letzte Grenzen gibt es schon noch, zum Glück. Warum sie jetzt plötzlich überschreiten? Wem nutzt es? Wen macht das freier? (…) Jetzt ist das Geschlechtsleben der Politiker auf dem politischen Markt der Berliner Republik. Da hätte es nicht hingehört."

Be-Coming in
"Das Coming-out ihres Fraktionsvorsitzenden sei sehr mutig, freuten sich die Genossen. Ist es das wirklich? (…) Schließlich legen die Berliner großen Wert darauf, sich mit den Metropolen dieser Welt zu messen. Wenn sie erst erfahren, daß auch Paris einen schwulen Bürgermeister hat, werden sie sagen: So was wollen wir auch!"

Warme Brüder, zur Sonne: Ein schwuler Bürgermeister in Berlin?
"Das bürgerliche Lager, wenn man so sagen darf, reagierte fast beleidigt, dass Wowereit im Ernst geglaubt haben könnte, seine Homosexualität sei heute überhaupt noch der Rede wert und verdächtigte den Bekennenden einer neuartigen, gleichsam unfairen Wahlkampftaktik. (…) Jedenfalls bedeutet das noch lange nicht, dass wir uns lieber vorstellen, wie genau Helmut und Hannelore Kohl zu ihren zwei Söhnen gekommen sind, als was Klaus Wowereit mit seinen Männerfreunden anfängt. Im Ernst will man von all solchen Sachen nichts wissen. (…) Die Öffentlichkeit hat ein Recht darauf, vor dem Privaten geschützt zu werden. Wir können auf Informationen zu Klaus Wowereits Sexualleben verzichten."

Franz Josef Wagner
"Leben wir in den 50ern, 60ern, wo schwul, unehelich (Willy Brandt) Wahlkampfthemen waren? Halten Sie es wirklich für möglich, dass politische Gegner in der Stadt der Love Parade plakatieren: Wählt Wowereit nicht, er küsst Männer."

 

Die Privatisierungswelle
"Beim SPD-Parteitag war zu hören, dass Wowereit unter Druck stand. 'Bild' wolle mit Wowereits Homosexualität herauskommen, so oder so. Da blieb dem Betroffenen nur die schnelle Flucht nach vorn. Wenn das stimmt, war Wagners Kolumne ein klein wenig perfide. (…) Der 'Bild'-Chefredakteur, Kai Diekmann, kommentiert die Angelegenheit mit dem Satz 'Wir berichten das, was gesagt wird.' Die Frage, ob 'Bild' auch gegen Wowereits Willen über seine Homosexualität berichtet hätte, 'stellt sich nicht', sagt Diekmann. (…) Besonders für die CDU ist die Lage knifflig. Mit Schwulenwitzen im Stile von Butz oder Schönbohm lässt sich in bestimmten Milieus auch heute noch Stimmung machen, es ist eine Versuchung. (…) Noch gilt die Faustregel: Grüne Homosexuelle outen sich immer. Bei SPD und FDP outen sie sich manchmal. Bei der CDU fast nie. Wenn das Zwangs-Outing aber erst einmal angefangen hat - wer soll es dann bremsen, bevor es die Union erfasst?'

Angst vor Berichten zeigt Ressentiments
"Das Outing von Wowereit verrät einiges über den Umgang mit der Homosexualität in Deutschland. Zwar gibt es immer mehr Prominente, die ihre Neigung öffentlich machen. Doch allein die Tatsache, dass Wowereit sich bemüßigt fühlte, möglichen Enthüllungsberichten über seine Homosexualität zuvorzukommen, zeigt, dass Politiker immer noch hartnäckige Vorurteile in der Gesellschaft fürchten müssen und es auch tun."

Mutige Offenheit
"Klaus Wowereit ist der erste Politiker, der sich öffentlich als Schwuler bekannt hat. Das wird die Berliner mehr beschäftigen als die Beschlüsse des Parteitages. Ein mutiger Schritt. Denn wie die Wähler dies honorieren werden, ist völlig offen."

 

Der doppelte Befreiungsschlag
"Seit gestern ist in der Hauptstadt alles anders. Mit dem Bekenntnis zu seiner Homosexualität hat Klaus Wowereit einen Schritt unternommen, wie er offensiver nicht sein könnte. Der SPD-Politiker tritt als erster offen schwuler Kandidat in Deutschland für ein Regierungsamt an. Für ihn selbst, die SPD und für die politische Kultur in Berlin ist das ein Befreiungsschlag. (…) Hinter den gestrigen Tag wird weder die SPD noch die Stadt zurückkönnen. Ob Berlin tatsächlich eine Metropole ist oder eine miefige Frontstadt, wird sich in den nächsten Wochen endgültig zeigen. Wowereit sei Dank."

Gut so 
"Ist das gut so? Erste Antwort, moralisch-theoretisch: Es ist weder gut noch schlecht, es ist egal. Zweite Antwort, politisch-praktisch: Es ist keineswegs egal, vieles – die Reaktion der Boulevard-Presse, süffisante Kommentare aus den Reihen der CDU – spricht dafür, dass es den Kandidaten Stimmen kosten könnte. Dritte Antwort, weil erstens und zweitens auseinander klaffen: Es ist gut so. (…) Sein Satz markiert eine Etappe auf dem Weg zu einer Normalität, die solche Bekenntnisse hoffentlich in Zukunft überflüssig machen wird. Das wäre dann wirklich gut so."

Bravo, Herr Wowereit! 
"Das kommt ins politische Geschichtsbuch! Nicht täuschen und tarnen mit Frauen an der Seite, gleich eine klare Ansage! Prima auch die Reaktion der Berliner SPD: Standing ovations für ziemlich offene Politik. Und noch besser: Kein Aufschrei in Berlin, kein Ruf, ein Homosexueller dürfe die Hauptstadt des Landes nicht regieren. Anderssein - in Berlin total normal."

Politbarometer kompakt: Wowereit "darf" schwul sein
"77 Prozent der Deutschen haben kein Problem damit, dass Klaus Wowereit, der neue Regierende Bürgermeister in Berlin, schwul ist. 21 Prozent stört es, wenn ein homosexueller Politiker Regierungschef ist."

Exzesse der Normalität: Homosexuelle in der Politik
"In Wirklichkeit ist Wowereit, wie jedermann weiß, mit seinem Geständnis auf dem Landesparteitag der Berliner SPD vor allem einer Enthüllungsgeschichte einer Boulevardzeitung zuvor gekommen. Das ist kalkulierter Selbstschutz, den ein kluger Politiker walten lassen muss. Ihn deswegen einer machiavellistisch gefärbten Wahlkampfstrategie zeihen zu wollen, ist grotesk."

Noch lange nicht normal
"Wie immer die politische Karriere des Klaus Wowereit weitergeht - eines wird von ihm bleiben: Er hat sich, nach nicht einmal einer Handvoll von Bundestagsabgeordneten, als erster Spitzenpolitiker zu seiner Homosexualität bekannt und damit die Diskussion um das heikle Thema ein gutes Stück vorangebracht. (…) Gibt es nicht auch andere, die einen solchen befreienden Akt nötig hätten? Wichtiger als die Preisgabe sexueller Vorlieben wäre ohnehin, wenn man von Politikern wüsste, ob und für welche Zwecke sie sich Lobbyisten- und andere Nebentätigkeiten honorieren lassen."

evangelisch.de/thö