Gebärdendolmetscher: Lauter als der Klang
30.000 Menschen haben das Konzert der Wise Guys in der Glücksgasarena mit den Ohren verfolgt. Doch die Musik der Kölner Band war auch mit den Augen zu hören - dank der Gebärdendolmetscherin Anja Hemmel.
04.06.2011
Von Gloria Veeser

Anja Hemmel sieht laut aus. Feuerroter Schopf, schwarzumrahmte Augen über dem flinken, runden Mund und kunterbunt tanzenden Hände. Ihre Gebärden sind Worte, ihre Gesten sind Geräusche. Auf ihrer Visitenkarte steht Diplom-Gebärdensprachendolmetscherin, Berufserfahrung seit 2005 und darunter: Studentin, Aufbaustudium. Sehen, sprechen, hören muss man können, das wird vor der Zulassung gestestet.

Eine besondere Begabung braucht man auch, um von dem einen Sinnesorgan in das andere zu übersetzen. Sprache ist das eine, aber Musikdolmetschen hat Anja Hemmel sich selbst beigebracht. Klang simultan in Bewegung zu übersetzen "das kann man nicht studieren, nur ausprobieren." Während sie erzählt, können ihre Hände nicht still halten. Sie sagt "hören" und fasst sich ans Ohr, sie sagt "sehen" und zeigt auf ihre Augen, ihr Mund spricht und ihre Hände, ihr ganzer Körper sprechen mit.

"Wise Guys": Lautlos - aber lesbar

Es ist Donnerstagnachmittag, vor Beginn des Wise-Guys-Konzerts in der Glücksgasarena in Dresden, Stadt wie Stadion bersten und ächzen ob der jungen Christenmassen. Schwüle. Anja Hemmel ist bald dran. Es ist das erste Mal, dass sie ein richtiges Konzert dolmetscht. Gestern war sie noch beim Gottesdienst in einfacher Sprache im Einsatz, heute Abend wird sie im Stadion auftreten, direkt neben, mit und für eine der beliebtesten Bands des Kirchentags – die A-Capella Gruppe "Wise Guys" aus Köln.

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Lange vor den Wise Guys betritt Anja mit den beiden anderen Dolmetscherinnen die Bühne. Sie ist die kleinste, aber das merkt keiner, weil sie so laut aussieht. Die drei stehen am linken unteren Bühnenrand, unter Palmen. Anja spürt die Aufregung in der Arena, und ihr Körper spricht sie aus. Lautlos - aber lesbar.

Die Vorband beginnt – eine Gospelgruppe. Als die ersten Lieder erklingen, schüttelt Anja noch einen Moment lang ungläubig den Kopf und hält sich, die Arme verschränkend, selbst fest. Schüchtern ist sie eigentlich keineswegs, aber vor 30.000 Leuten werden selbst die sichersten Persönlichkeiten mal genant. Doch nach ein paar Takten werden ihre Bewegungen schwungvoller und verraten, dass sie langsam auftaut. Sie wippt im Takt, und langsam wandert die Musik von ihrem Gesicht über die Hände, wird dort zur Melodie - und verwandelt sich in ihren Beinen in puren Rhythmus.

Körpersprache - wie man mit den Augen hört

Als die Wise Guys endlich dran sind, ist sie voll da, und das muss sie auch. Die A-Capella-Band tritt ohne Instrumente auf: Aller Ton auf der Bühne ist reine Stimme. Das verlangt Anja alles ab - fühlen und spielen, sprechen und tanzen, empfangen und senden, unentwegt. Die Liedtexte hat sie vorher zu Hause vor dem Spiegel einstudiert. Aber die Notenständer stehen längst in der Ecke.

Eine durchdringende Musikalität spricht aus ihren Bewegungen. In ihrer Sprache kann sie jedes Instrument – spielt Luftgitarre, trommelt, zupft. Glockengeläut schwingt, Bass hämmert, Melodie tanzt. Sieht so Musik aus? Körpersprache, das ist ein viel zu schwaches Wort. Zu klobig sind die Wörter, um von einem Sinnesorgan in das andere zu übersetzen.

Die fünf Wise Guys dröhnen durch die Boxen, Verstärker und Ohrstöpsel hindurch wie ein großes Orchester. Als Geschrei aufbrandet, hält Anja Hemmel sich die Hände an die Ohren und man weiß nicht, ob sie das wirklich tut, oder ob es eine Gebärde ist und "laut" heißt.

Der Beat peitscht voran, Euphorie, immer wieder die Applausgeste, laut, so unmittelbar laut - unvorstellbar, jetzt nichts zu hören. Anjas Sprache ist die einzige, die den ohrenbetäubenden Lärm überwindet. Das Blitzlichtgewitter tausender Handyfotos flackert in Anjas Augen. Was von "ihrem Konzert" bleibt, ist ein Gefühl der Sprachlosigkeit und eine Ahnung davon, wie man mit den Augen hört.

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