Ein rascher Atomausstieg könnte der deutschen Wirtschaft zusätzliche Aufträge von bis zu 65 Milliarden Euro bescheren, schätzt das wirtschaftsnahe Fachmagazin "Markt und Mittelstand". Davon dürften vor allem mittlere Unternehmen und kleinere Branchen profitieren. So würden für den Rückbau der Atomkraftwerke nicht nur einige hoch spezialisierte Firmen gefragt sein, sondern die im Mittelstand "vorhandenen Technologien müssen meist lediglich angepasst werden". Obendrein zeichnen sich neue Exportchancen ab. Auf ihrer Indien-Reise warb Kanzlerin Merkel schon lautstark für Energieeffizienz "Made in Germany".
Optimistisch sind auch Gewerkschaften. Der Atomausstieg bedeute "kein Gefährdungsszenario für Arbeitsplätze", sagt Angelika Thomas, Energieexpertin beim IG-Metall-Bundesvorstand in Frankfurt am Main. Im Gegenteil: Der Umstieg erfordere Investitionen in die Modernisierung der konventionellen Kraftwerke und im Norden entstünden durch die Offshore-Windparks "in einer ganzen Region ein ganz neues industrielles Beschäftigungsfeld, für Jahrzehnte". An der Küste dürften zudem neue Industrieansiedlungen und arbeitsintensive Logistikparks entstehen.
Energieeffizienz als Jobmotor
Bundesweit erfolgt die Stromerzeugung heute zwar industriell, aber dezentral. Daher muss das nationale Leitungsnetz ausgebaut werden, um die Windenergie aus der Nord- und Ostsee in die Ballungsräume des Westens und Südens zu leiten. Laut Deutscher Energie-Agentur sind dafür bis zu 25 Milliarden Euro an Investitionen notwendig - zur Freude der vier großen Netzbetreiber Amprion (früher RWE), EnBW, Tenne (früher Eon) und 50Hertz Transmission (früher Vattenfall). Zunächst braucht es aber für die Fundamente der Masten Betonbauer, für den Rohrbau Tiefbauunternehmen, für die Masten und Leitungen Stahlfabriken, Seil- und Isolatorenhersteller.
Ein solcher inländischer Schub täte dem Exporteuropameister gut, der bislang trotz Wiederaufschwung nur das Vorkrisen-Niveau wieder erreichte. Deutschland leidet seit den neunziger Jahren unter einer "nachlassenden Investitionsdynamik", beklagen die Berliner Ökonomen Jan Priewe und Katja Rietzler. Das Atom-Aus könnte die fehlenden Impulse liefern. So baut das deutsche Unternehmen ABB auf Einsparpotenziale in der Industrie. Durch eine Verbesserung der Produktionsprozesse und Wärmeoptimierung in Fabrikhallen könnte weltweit "der von 250 Großkraftwerken erzeugte Strom eingespart werden", heißt es bei ABB.
Sparen gilt als potenteste Energie"quelle" der Zukunft, schließlich verbraucht die Industrie etwa 40 Prozent des Stroms. Allein die Steigerung der Energieeffizienz, dies zeigen Studien, könnte mehr als 800.000 Jobs bringen, etwa in Querschnittstechnologien wie Pump- und Kühlsystemen, bei der Gebäudetechnik und im Maschinenbau.
Verlierer von heute, Gewinner von morgen
Das AKW-Aus kennt auch Verlierer: Zementhersteller, Papierindustrie oder die Produzenten von chemischen Grundstoffen, die energieintensiv produzieren, fürchten höhere Kosten, sollten die Strompreise steigen. Betroffen davon wären laut Verbandsangaben allerdings weniger als zwei Prozent der über 40 Millionen Erwerbstätigen in Deutschland, also "nur" rund 800.000 Jobs.
Ökonomen halten die im internationalen Vergleich seit langem hohen Energie- und Rohstoffkosten der deutschen Wirtschaft sogar strategisch für einen Wettbewerbsvorteil. Teurer Strom zwang zu Innovationen, die zu dem aktuellen Exportboom maßgeblich beitragen. Das Essener Forschungsinstitutes RWI hat herausgefunden: Gerade energieintensive Unternehmen in Deutschland sind weltweite Vorreiter in Sachen Energieeffizienz. Dagegen ist Frankreichs Wirtschaft, auch wegen des staatlichen subventionierten Billig-Industriestroms, bei den entscheidenden Lohnstückkosten weit hinter deutsche Unternehmen zurückgefallen.
Siemens setzt auf grün
Wie ABB tummelt sich Deutschlands Vorzeigekonzern Siemens seit langem im Atombusiness. Aber nicht erst seit Fukushima setzt Siemens stärker auf "grüne" Technologien. Bei der Windkraft aus dem Meer sind die Münchner auf dem Weg in die globale Spitzengruppe. In seine nagelneue vierte Sparte "Infrastruktur und Städte" setzt Siemens-Boss Peter Löscher kapitale Hoffnungen: In einer Schau auf der Hannover Messe demonstrierte er, wie eine atomfreie Energieversorgung mit intelligenten Netzen - Smart Grids - die Metropole von morgen regelt. Die jüngste Siemens-Sparte bündelt bereits einen Umsatz von über 15 Milliarden Euro.
Selbst innerhalb des lange von der Atomlobby dominierten Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI) mehren sich die Stimmen derjenigen, die in der Energiewende wirtschaftliche Chancen entdecken. Eines der wichtigsten BDI-Mitglieder, der Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau, fordert die vorrangige Einspeisung von Ökostrom - seine Mitgliedsfirmen versprechen sich vom Ende der Atomwirtschaft einfach bessere Geschäfte.
Hermannus Pfeiffer ist freier Wirtschaftsjournalist.