Das Prinzip heißt: Im Zweifel für den Angeklagten
Jörg Kachelmann ist aus Mangel an Beweisen freigesprochen worden. Richtig? Falsch? Das wird sich wohl nie klären lassen. Aber das Ende des Prozesses, der 44 Verhandlungstage brauchte, gibt zu denken.
31.05.2011
Von Hanno Terbuyken

Die eine Seite, die positive: Die mediale Aufmerksamkeit, die Jörg Kachelmann und dem Prozess zuteil wurde, hat das Urteil offenbar nicht wesentlich beeinflusst. Die Wellen der Vorverurteilung sind an den Wänden des Gerichtssaals zwar aufgebrandet, aber nicht durchgedrungen.

Die andere Seite, die negative: Für die Opfer von Vergewaltigungen ist das Urteil – ein Freispruch aus Mangel an Beweisen – kein besonders ermutigender Richterspruch. Denn die Beweislast liegt immer beim Opfer, und wenn Aussage gegen Aussage steht, dann gilt eben der Rechtsgrundsatz: In dubio pro reo, im Zweifel für den Angeklagten.

So war es auch im Fall Kachelmann: Es gab weder genug Beweise für eine Verurteilung noch genug Beweise für eine zweifelsfreie Entlastung, oder in den Worten des Richters: "Zusammenfassend lässt sich sagen, dass keiner der außerhalb der Aussagen liegenden Beweise für sich gesehen geeignet ist, die Schuld oder gar die Unschuld des Angeklagten zu belegen."

Rüge für die Presse

Unbefriedigend? Ja – wenn man sich schon entschieden hatte. Wer glaubt, Kachelmann habe seine damalige Freundin in der Tat bedroht und zum Sex gezwungen, wird das weiter glauben. Wer glaubt, die Frau habe die Tat erfunden, um Kachelmann zu schaden, wird das ebenfalls weiter glauben.

Aber das Gericht hat diesen Urteilsspruch nach Abwägung aller Aussagen und nach der Betrachtung der Beweise gefällt, nicht nach dem Gewicht der medial publizierten Meinung. Es war nicht nur die "Bild"-Zeitung, die sich im Fall Kachelmann hervortat: Die "Süddeutsche" und die "Zeit" ließen sich ebenfalls nicht lumpen mit ausführlichen Analysen des bekannten Materials zum Prozess und einem eigenen Urteil.

In der Urteilsbegründung ging Richter Seidling zu Recht hart ins Gericht mit den Berichterstattern, die sich auf die bekannten Fakten stürzten, ohne das ganze Bild zu kennen. Einige Zeugen gaben Interviews, Kachelmanns Verteidiger-Wechsel wurde prominent im Boulevard diskutiert, aber kein Journalist war bei der ganzen Verhandlung dabei. Zum Schutz der Privatsphäre von Zeugen war die Öffentlichkeit zwischenzeitlich immer wieder ausgeschlossen worden.

Konsequent und richtig

Das sei noch einmal gesagt: Dieser Ausschluss ist konsequent und richtig und hätte durchaus noch stärker sein dürfen. Die intimen Details eines Vergewaltigungsprozesses oder vorhergegangener Affären müssen nicht in die Öffentlichkeit. Egal, wie prominent der mutmaßliche Täter ist.

Lob dem Gericht also dafür, dass es an dem geltenden Rechtsgrundsatz festhielt, auch wenn das Publikum lieber einen Lynchmord nach Abstimmung gesehen hätte.

Fast bleibt einem dieses Lob aber im Halse stecken, wenn man die Lage des Opfers betrachtet. Wie sollen Frauen, die im Privaten Opfer eines Sexualverbrechens geworden sind, sich vor Gericht behaupten, wenn selbst in diesem Prozess, in dem wirklich jedes Indiz unter den bohrenden Blicken von neugierigen Öffentlichkeitsvertretern zweimal umgedreht wurde, am Ende ein Freispruch aus Mangel an Beweisen steht? Kann man ihnen dann sagen: Geh hin, schütte dein Herz aus, kehre dein Innerstes nach außen, und am Ende war's umsonst?

Dem Recht wurde Genüge getan. Dem Schutz der Opfer, die gerade bei Sexualdelikten in aller Regel immer die Schwächeren sind, hilft das nicht. Dieses Dilemma lässt sich aber nicht im Gerichtssaal lösen. Auch das ist eine Lehre aus dem Kachelmann-Prozess, auf die es keine einfache Antwort gibt.


 

Hanno Terbuyken ist Redakteur bei evangelisch.de.