Nach acht Monaten des Schweigens als Folge der Restaurierung des früheren Instruments ist das Innere des Gotteshauses in der Dresdner Neustadt wieder von brausenden Klängen erfüllt. Ergreifend das "Halleluja" für Orgel und Chor, eine Eigenkomposition von Markus Leidenberger. Der Kantor der Kirche hat sie speziell für diesen Tag der Freude geschrieben. Die Orgel, die in der Vergangenheit häufig verändert und erweitert worden ist, klinge nun runder und geschlossener, sagt der Kirchenmusikdirektor der Landeskirche Sachsens. "Der Gesamtklang wird zu einem neuen Erlebnis."
Die Gemeinde singt den Choral "Lobet den Herrn". Dieser Sonntag ist ein Tag des Glücks für viele, die an dem Werk der Erneuerung einer der großen Orgeln Dresdens mit ihrem Grundbestand von 1887 beteiligt waren. Er sei "erleichtert und zufrieden", schildert Pfarrer Ekkehard Müller seine Gemütslage. Müller wirkt zwar erst seit einigen Monaten in der Gemeinde, hat jedoch mehr als ihm lieb war Störungen und Ausfälle des alten Instruments erleben müssen. Keine Überraschung - war doch die Elektrik 70 Jahre, der Orgelmotor gar 90 Jahre im Einsatz.
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Ganz besonders groß ist die Freude bei der ortsansässigen Orgelbaufirma Jehmlich. Die Vorfahren von Ralph Jehmlich, der den Betrieb in sechster Generation führt, hatten einst das Wunderwerk aus Metall und Holz gebaut. Orgeln, im Prinzip Systeme von Tasten- und Blasinstrumenten auf der Basis von Luft- und Windströmen, sind mit Prospekt, Pfeifen, die zu Registern vereinigt werden, Spieltisch oder Spielschrank komplizierte Organismen. In Bauweise, Material und Technik haben sie sich über die Jahrhunderte ständig verändert. "Einfach wunderbar", bringt Seniorchef Horst Jehmlich seine Impressionen zum Abschluss des langwierigen Planungs- und Umsetzungsprozesses auf den Nenner. Über 10.000 Arbeitsstundenhabe die Firma in das Vorhaben investiert.
Eine Orgelsanierung ist die Stunde der Geduldigen
Ein komplexer Prozess ist zu einem guten Ende geführt worden. Entscheidet sich eine Kirchengemeinde für den kompletten Austausch oder die gründliche Überholung ihrer Orgel, schlägt stets die Stunde der Geduldigen. Orgelsanierungen sind keine Aufgabe für Aktionisten und folgen keinerlei Schablonen. "Orgeln sind Unikate", unterstreicht Leidenberger, um hinzuzufügen: "Es kann leicht zehn oder mehr Jahre von der Idee bis zur Verwirklichung dauern." Damit rücken Anforderungen in den Blick, die über die Beschaffung der zumeist sechsstelligen Kosten für solche Projekte weit hinausgehen. Natürlich ist die Hürde hoch, wenn die Gemeinde ein Drittel des Budgets plus Nebenkosten aufbringen und zur Überbrückung einen Kirchenkredit aufnehmen muss. 380.000 Euro verschlingt die Restaurierung beim Dresdner Projekt.
Den Organisten bietet die dreimanualige Orgel mit ihren 60 Registern und über 3.800 Pfeifen nach der Restaurierung ungeahnte Möglichkeiten. Das Klangbild jetzt nennt Leidenberger eine Synthese aus spätromantischem und neobarockem Charakter. Register unterschiedlicher Epochen sind zu einem homogenen Gesamteindruck verschmolzen worden. Der Ursprung - so der Kantor - war noch Barock-Klassisch. "1902 kam das typisch romantische Element dazu, das 1937 neobarock umdisponiert wurde. Jetzt haben wir den neobarocken Klang erhalten, wobei wir vom romantischen Klang etwas wieder gewonnen haben."
Orgelgeschichte, lernt der Außenstehende, ist mancherlei, auch Zeitgeist- und
Verkündigungsgeschichte. Für Spieler des Instruments kommt die Erweiterung des Manualumfangs um vier Töne bis a''' einem Geschenk gleich. Damit, erläutert Leidenberger, sei nun die französische Orgelliteratur ohne Umlegungen von Tönen darstellbar. Werke von Franck, Messiaen, Vierne oder Widor waren zuvor nur nach vorheriger Transkription spielbar.
200 Jahre sind kein Alter für eine Orgel
Restaurierung oder Neubau? Das Konzept war unter den Beteiligten frühzeitig Konsens. Mit gravierenden Folgen. "Wenn man sich für eine Rekonstruktion des Originals entscheidet, also die reine Wiederherstellung des alten Zustands", erklärt Jehmlich, "dann kann der Orgelbauer praktisch keine Fehler machen." Mit dem Votum des Kirchenvorstandes unter Konsultation eines Orgelsachverständigen der Landeskirche für die Restaurierung des gewachsenen Zustandes lag der Fall sofort anspruchsvoller, kommt es dann doch auf das Geschick an, unterschiedlich gewachsene Gewerke in eine stimmige Gesamtlösung einzubringen.
Video: Die Jehmlich-Orgel in Christuskirche zu Dresden Strehlen.
Der Verschleiß, dem Orgeln üblicherweise unterliegen, ist geringer, als der Laie annehmen dürfte. "Für Orgeln sind 200 Jahre kein Alter", bekräftigt Jehmlich. Er steigt jedoch in dem Maße, wie nicht mehr mechanische, sondern pneumatische oder elektrische Antriebe zur Anwendung gelangen. Zur komplett neuen Elektrik kam die Unterstützung der elektrischen Setzung der Register durch Computer hinzu. Ein Sprung in eindrucksvolle Dimensionen. Die Setzeranlage, wie der Computer im Spieltisch genannt wird, vermag eine Vielzahl an Registerkombinationen zu speichern. "Der Organist kann bis zu 30.000 Mal Registereinstellungen auswählen und speichern, um diese im Spiel nach und nach abzurufen", erläutert Leidenberger.
Von dem in Dresden erreichten Zustand kann Tom Ogilvy derzeit nur träumen. An die fünf Jahre werde es wohl dauern, berichtet der Pfarrer der Evangelisch-Lutherischen Kirchgemeinde Pinnow bei Schwerin, bis die hier favorisierte Idee von einer neuen Orgel für die aus dem 14. Jahrhundert stammende Dorfkirche Wirklichkeit werde. Die Gemeinde sei zwar "relativ potent". Sie liegt im Speckgürtel der Landeshauptstadt und hat durch Zuzug etablierter Bürger ihre Einwohnerschaft seit der Wende vervierfacht. Rund 1.000 der nunmehr 1.400 Menschen in Pinnow sind Mitglieder der Kirchgemeinde. Gleichwohl, hebt der Pfarrer hervor, sei das 300.000-Euro-Vorhaben nicht über Nacht zu stemmen. "Auch größere Gemeinden in Mecklenburg-Vorpommern schaffen das nicht ohne weiteres."
Ohne Spenden kriegt man keine Orgel gebaut
Ogilvy, der sich auf schottische Vorfahren und eine Mentalität gewisser Beharrlichkeit berufen kann, hat freilich engagierte Unterstützer. Einer von ihnen ist Tilman Köhler, hauptberuflich Kinderarzt. Er ist einer von sechs ehrenamtlichen Organisten der Gemeinde und Vorsitzender des im April 2010 gegründeten Fördervereins, der sich dem Neuanfang verschrieben hat. Ein Jahrzehnt zuvor hatte ein Orgelsachverständiger davon abgeraten, in das alte Instrument zu investieren. Für Köhler eine Vorentscheidung, die über Pinnow weit hinausragt: "In den letzten beiden Jahrzehnten sind hier im Norden die Orgeln meistens renoviert worden. Was wir angehen ist nach langer Zeit wieder mal ein Neubau, der die Orgellandschaft Mecklenburgs erweitert." Das neue Instrument soll den typischen barocken Standards klassische und romantische Farben hinzuführen.
Zwar wissen die Pinnower sehr genau, was sie wollen. Aus fünf Angeboten wurde das Konzept der Dresdner Firma Wegscheider ausgewählt. Die übergemeindliche Finanzierung ist geklärt. Ogilvy trägt sich mit dem Gedanken, Joachim Gauck als Schirmherrn für das Ganze zu gewinnen. Doch ist eben offen, wie lange sich die Sicherung des finanziellen Eigenanteils hinziehen wird. Spenden sind wie die Übernahme von Patenschaften für Orgelpfeifen hier wie in Dresden ein bewährtes Mittel und ein beliebtes Angebot an Einzelne, die sich engagieren wollen. Ab 20 Euro ist dabei, wer will, auch 1.000 Euro-Anteile sind gefragt. Die Martin-Luther-Gemeinde setzt zudem auf den Verkauf von Orgel-CD's, Bastelbögen oder Jahreskalendern. Die Pinnower brachten Geld für ihre Orgel beim Public Viewing bei der Fußball-WM 2010 durch den Verkauf von Salaten, Bier sowie Schmackhaftem vom Grill zusammen.
Von derlei Kärrnerarbeit sind der Bonner Universitätsprediger Reinhard Schmidt-Rost und seine Mitstreiter zum Glück befreit. Die Finanzierung der neuen Orgel (Bild links; Foto: Smolarz) für die unmittelbar an das Hauptgebäude der Hochschule angrenzende Schlosskirche steht, berichtet der Inhaber eines Lehrstuhls für Praktische Theologie. Ebenso das Konzept wie schon der Termin für die Orgelfeier, der 6. Mai 2012. Allein die Hälfte des 550.000 Euro-Budgets sei dem Engagement der Stiftung Symphasis mit Sitz in Zürich zu verdanken. Dabei spielten Verbindungen zu dem bekannten Schweizer Theologen Karl Barth eine Rolle. Dieser lehrte und predigte Anfang der 30er Jahre in Bonn, bevor er von den Nazis zum Feind erklärt wurde und zurück nach Basel ging.
Ökumenischer Orgelneubau in Bonn
In der Bundesstadt ist die Schlosskirche mit ihrem gelb-weißen Kolorit und den reichhaltigen Stuckarbeiten ein ganz spezielles, gleichsam aristokratisches Kleinod. Sie wurde 1779 ursprünglich als Hofkapelle für die Kurfürsten errichtet. Ludwig van Beethoven hatte hier bei dem Hoforganisten Christian Neefe Orgelunterricht. Nach der Zerstörung im Bombenkrieg wurde sie im alten Stil wiederhergestellt. Heute dient die Kirche den evangelischen Universitätsgottesdiensten. Zugleich ist sie Schauplatz für Konzerte sowie eine beliebte Trau- und Taufkirche.
Verweilt der Gast auch nur wenige Minuten im Inneren mit seinem Rokoko-Charakter, wird eine der Anforderungen an den ausgewählten Orgelbauer sinnlich spürbar. Der neun Köpfe umfassende Arbeitskreis gab ihm den Erhalt der äußerlichen Anmutung der Orgelempore mit auf den Weg. Keinesfalls dürfe der hierfür wesentliche Lichteinfall beschränkt werden. Schmidt-Rost weiß den Auftrag in guten Händen. Mit der Vergabe an die Bonner Traditionsfirma Klais sei zudem noch eine Denkwürdigkeit verbunden: "Unser Orgelneubau wird das erstes ökumenische Projekt dieser Art in Bonn, zumindest im Innenstadtbezirk. Ein katholischer Orgelbauer wird für eine evangelische Gemeinde tätig."
Dresden, Pinnow, Bonn – sind die Voraussetzungen jeweils unterschiedlich, ähneln sie sich jedoch unter einem Aspekt: Zu keinem Zeitpunkt wurde unter den Verantwortlichen daran gedacht, auf die Orgel an sich zu verzichten. Dabei sind Keyboards, die Orgelklänge produzieren können und das klassische Instrument ersetzen könnten, nicht unbekannt. "Die Möglichkeiten", bestätigt Leidenberger, "Orgelklang zu imitieren, sind außerordentlich gestiegen." Allerdings sei einzig die herkömmliche Orgel in der Lage, einen voll besetzten Raum "im Griff" zu haben: "Die Pfeifenorgel ist unschlagbar." Schmidt-Rost begründet die Relevanz des klassischen Instruments mit seinen großen Dimension nicht zuletzt aus liturgischer Sicht: "Musik dringt mehr zu Herzen." Das Ohr nehme differenzierter wahr als das Auge. Daher symbolisiere und erfülle die Orgel auf einzigartige Weise das evangelische Verständnis von Verkündigung.
Ralf Siepmann ist freier Journalist in Bonn.