Die Schülerinnen der Maria-Ward-Mädchenschule harren in dieser lauen Mai-Nacht lange aus vor dem Bundeskanzleramt. Sie sind auf Klassenfahrt in Berlin und wollen die Entscheidung für die Energiewende in Deutschland live verfolgen.
Kurz vor Mitternacht sehen sie, wie SPD-Chef Sigmar Gabriel und Grünen-Fraktionschef Jürgen Trittin aus dem abgesperrten Betonbau kommen und in die Kameras sagen, dass sich die schwarz-gelbe Koalition beim Atomausstieg eine Hintertür offenlasse. Als die Nachricht kommt, dass bis 2022 Schluss alle Atommeiler im Land ist, jubeln die meisten Mädchen. "Ich bin für den Atomausstieg, weil das unsere Welt ist und wir noch eine Weile darin leben wollen", sagt die 15-jährige Kathrin Fesenmeyer.
Die "historische" Entwicklung hatten wir schon einmal
Mit ihrer Entscheidung revidiert die schwarz-gelbe Koalition von Kanzlerin Angela Merkel den im vergangenen Herbst beschlossenen Ausstieg aus dem rot-grünen Atomausstieg. "Historisch" ist das absehbare Ende der Atomenergie deshalb wohl kaum. Denn so weit war die Republik schon einmal unter Rot-Grün. Es wird aber in die Geschichte von Union und FDP eingehen, dass ausgerechnet sie als langjährige Streiter für die Atomkraft eine so beispiellose Kehrtwende vollziehen.
Gegen keine andere politische Entscheidung gingen in Deutschland in den vergangenen Jahren so viele Menschen auf die Straße wie gegen die Verlängerung der Atomlaufzeiten um durchschnittlich zwölf Jahre bis etwa ins Jahr 2035. Ein befriedeter Konflikt in der Gesellschaft brach wieder auf.
Viele in der Koalition halten die Laufzeitverlängerung heute für einen Fehler. Doch nur wenige geben das so offen zu wie Gerda Hasselfeldt. "Wir haben das unterschätzt", sagte die CSU-Landesgruppenvorsitzende. Das Kanzleramt formuliert geschmeidiger: "Wir werden unser (...) Energiekonzept fortentwickeln und den im Herbst beschlossenen Weg noch schneller und konsequenter gehen." Die Kanzlerin und Physikerin selbst räumt aber auch ein, etwas unterschätzt zu haben: das Restrisiko dieser gefährlichen Energie. Merkels Kehrtwende kam mit der Atomkatastrophe in Japan.
Trotzdem keine guten Wahlchancen
"Schade, dass das erst passieren musste", sagt die junge Kathrin Fesenmeyer. Ihre Mitschülerin Jessica Zwick (16) meint, Merkel habe sich nun für den Atomausstieg entschieden, weil sie wisse, "dass das in der Bevölkerung ankommt". Die 16-jährige Laura Feltmann protestiert: Oberstes Ziel der Bundesregierung sei im Herbst gewesen, die Energieversorgung in Deutschland sicherzustellen. Die Nutzung von erneuerbaren Energien sei zu unsicher gewesen. "Quatsch, das war doch alles bekannt", fällt ihr Lara Haser (16) ins Wort.
Anders als im Herbst binde die Kanzlerin und CDU-Vorsitzende diesmal statt der Atomlobby die Ministerpräsidenten sowie SPD und Grüne ein, zeigt sich ein CDU-Landesregierungschef erleichtert. Das liege aber nicht nur an Fukushima, sondern auch an den Wahlverlusten der CDU in den Ländern. Je weniger Ministerpräsidenten die Union habe, desto stärker achte Merkel auf die Belange der Übriggebliebenen und insgesamt auf die Sorgen der Länder. Rosige Aussichten bei den Landtagswahlen in Mecklenburg-Vorpommern und in Berlin im September hat die CDU nicht.
Versprechen: Entscheidung diesmal unumkehrbar
Die schwarz-gelbe Koalition will mit ihrem Konzept den rot-grünen Atomausstieg nun überholen. Intensiv wie nie zuvor werde nun der Umstieg auf erneuerbare Energien betrieben, heißt es. Und die Regierung sichert zu: Einen neuerlichen schwarzen-gelben Ausstieg aus der Atomkraft werde es nicht geben. Schriftlich wurde im Kanzleramt in der Nacht zum Montag festgehalten: Die Entscheidung werde "nicht noch einmal infrage gestellt".
Dabei wird es nun viele finanzielle Probleme und auch wieder gesellschaftliche Konflikte geben. Denn erneuerbare Energien bedeuten Windräder, Stromtrassenbau, Biogas - also Lärm und Gestank. Hier wird die Regierung schnell Gesetze erlassen, damit sie eine bessere Handhabe für den Ausbau regenerativer Energien hat. Vielleicht hat Merkel SPD und Grüne auch deshalb zu Gesprächen ins Kanzleramt geladen. Denn dieser zu erwartende Protest vieler Bürger wird auch Rot-Grün treffen.