Amnesty Deutschland: "Wir sind Weltverbesserer"
Amnesty International, die weltweit größte Menschenrechtsorganisation, feiert ihr 50jähriges Bestehen. Wolfgang Grenz, amtierender Generalsekretär der Deutschland-Sektion, spricht im evangelisch.de-Interview über fünfzig Jahre Einsatz für Menschenrechte, die Konkurrenz unter den Organisationen und die Frage, warum es Amnesty International auch in fünfzig Jahren noch geben wird.
26.05.2011
Die Fragen stellte Lena Högemann

Als Gründungsdatum nennt Amnesty International den 28. Mai 1961, als der britische Anwalt Peter Benenson den Artikel "The forgotten prisoners" im Observer veröffentlichte. Warum wird ausgerechnet dieser Artikel als Beginn gesehen?

Wolfgang Grenz: Diese Geschichte ist schon spannend: Da werden in einem europäischen Land, Portugal, Menschen inhaftiert, weil sie einen Toast auf die Freiheit ausgebracht haben. Peter Benenson hat sich gesagt: Das kann doch nicht wahr sein. Es ist sehr symptomatisch, dass wir mit dem Recht auf Meinungsfreiheit angefangen haben und heute, im fünfzigsten Jahr, das immer noch ein Schwerpunkt unserer Arbeit ist. Die Entwicklungen in der arabischen Welt zeigen , dass die Menschen dort ihre Meinung frei äußern wollen. Der Unterschied ist: Als wir angefangen haben, mussten wir noch Briefe schreiben, später Fernschreiben, dann Faxe. Heute gibt es Facebook und Twitter. Das hat wirklich geholfen, die Menschen zu mobilisieren. Und Peter Benenson hat 1961 den Zeitgeist getroffen, obwohl er selber mit diesem Erfolg nicht gerechnet hat.

Nach 50 Jahren: Was waren die größten Errungenschaften von Amnesty International?

Grenz: Dass es den Begriff der Menschenrechte und das Bewusstsein dafür gibt, ist sicher die größte Errungenschaft. Selbst Regierungen, die immer wieder Menschenrechte verletzen, müssen sich mittlerweile rechtfertigen. Amnesty hat ihren Beitrag dazu geleistet, dass die internationale Staatengemeinschaft mehrere Abkommen zur Einhaltung der Menschenrechte geschlossen hat. Die völkerrechtlichen Grundlagen sind da, aber das heißt leider nicht, dass nicht immer noch Menschenrechte verletzt werden. Wir sind eine Mitgliederorganisation, die sich immer auch für Einzelfälle und Gruppen einsetzt. Da gibt es immer wieder Erfolge.

Auf der anderen Seite gibt es so viele Menschenrechtsverletzungen überall auf der Welt. Wenn Sie etwas erreicht haben, können Sie gleich weiter machen. Ist das nicht auch demotivierend?

Grenz: Wir wollen Dinge verbessern und da gibt es viele Erfolge. Es gibt natürlich Rückschläge, aber die Hoffnung bleibt.

Sind Sie ein Weltverbesserer? Muss man das vielleicht auch sein in Ihrem Beruf?

Grenz: Im positiven Sinne sind wir Weltverbesserer. Aber dieser Begriff wird meist negativ gebraucht. Da sage ich: Nein, wir sind nicht naiv. Wir nehmen die Staatengemeinschaft beim Wort, denn die Staaten haben sich mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verpflichtet. In der Praxis müssen wir die Einhaltung der Menschenrechte immer wieder einfordern. Und dafür müssen wir den Regierungen auf die Nerven gehen.

Amnesty hat seine Arbeitsgebiete ständig erweitert. Von Flüchtlingen über die Todesstrafe bis hin zu sozialer Armut. Was steckt dahinter?

Grenz: Unserer Stärke ist, dass wir auf den Gebieten, auf denen wir arbeiten, gut sind. Unsere Informationen sindsorgfältig recherchiert, wir machen selten Fehler. Wir werden manchmal kritisiert, dass wir ein Gemischtwarenladen für Menschenrechte seien. Für uns ist es klar, dass wir uns für die Einhaltung aller Menschenrechte engagieren, dazu gehören auch soziale und kulturelle Menschenrechte. Wir glauben nicht, dass Armut vom Himmel gefallen oder gottgegeben ist. Wir sagen: In vielen Fällen führt Armut zu Menschenrechtsverletzungen. Wenn die Menschen keinen Zugang zu Bildung haben, dann können sie auch nicht begreifen, was ihnen an Menschenrechten zusteht.

Was sind denn die entscheidenden Themen der Zukunft?

Grenz: In diesem Jahr haben wir Meinungsfreiheit zum Schwerpunkt gemacht. Wichtig bleibt auch der Einsatz gegen die Folter – gerade seit dem 11. September 2001 – und der Einsatz gegen die Todesstrafe. Da haben wir viel erreicht: Als Amnesty anfing, gab es nur 19 Staaten, die die Todesstrafe abgeschafft haben. Heute sind es 139 Staaten. Hochaktuell ist auch der Flüchtlingsschutz. Wir sehen das hier in Europa, das sich immer mehr abschottet. Der Streit mit Italien um die Flüchtlinge in Lampedusa zeigt, dass es kein gemeinsames Verständnis der Flüchtlingspolitik in Europa gibt. Da müssen wir uns zu Wort melden.

Nach der Katastrophe in Fukushima erleben vor allem Nicht-Regierungsorganisationen im Bereich Umweltschutz und Anti-Atomkraft Zulauf. Wie gehen Sie mit dieser Konkurrenz um?

Grenz: Vor zwei Jahren haben wir eine Aktion mit Greenpeace gemacht, indem wir Menschenrechtsfragen und Naturschutz miteinander verbunden haben. Wenn durch fehlende Umweltschutzmaßnahmen den Menschen die Lebensgrundlage genommen wird, kann das zu Armut und zu Menschenrechtsverletzungen führen. Solche Veränderungen führen auch zu Migration und dann muss die Frage gestellt werden, wie mit den Migranten umgegangen wird.

Welche Rolle spielt das Christentum bei Ihrer Arbeit?

Grenz: Unter unseren Mitgliedern sind sehr viele Christen. Viele Amnestygruppen tagen auch in Kirchengemeinden.. Wir treten für die Menschenrechte ein. Im Christentum wird der Mensch geschützt, der Nächste wird geliebt. Das Recht auf Leben ist ein ganz wichtiges Menschenrecht und eine wichtige Grundlage des Christentums. Wir stützen uns aber auf die Vereinbarung der Staaten zu Menschenrechten, unabhängig von der Zugehörigkeit zu einer Religion.

Wie wird es aussehen in 50 Jahren in Sachen Menschenrechte?

Grenz: Wir werden Amnesty International auch in 50 Jahren noch brauchen. Es ist eine Illusion zu glauben, dass wir in 50 Jahren in einer guten Welt leben, in der es keine Menschenrechtsverletzungen mehr gibt. Es wird Verbesserungen geben, es wird Rückschläge geben. Es wird uns also – leider – in fünfzig Jahren auch noch geben.


Wolfgang Grenz arbeitet seit über 30 Jahren für Amnesty International in Deutschland. Der Jurist ist Leiter der Abteilung Flüchtlinge, Länder und Themen und vertritt zurzeit die Generalsekretärin in Deutschland, Monika Lüke, als ihr Stellvertreter.