Sucht im Alter: "Großes und verdecktes Problem"
Gerade im Alter haben Menschen Probleme mit Alkohol und Medikamenten. Wie lässt sich mit den Suchtkranken umgehen? Die Bundesregierung fördert acht Modellprojekte zum Austausch zwischen Alten- und Suchthilfe. An einem Projekt der Diakonie in Ostwestfalen nimmt die Gerontopsychiatrische Tagespflege des Evangelischen Krankenhauses in Bielefeld teil. Ein Besuch in der Moltkestraße.
26.05.2011
Von Claudia Biehahn

10 Uhr, Zeit für Morgenrunde und Gymnastik. Die Damen und Herren, die gerade noch beim zweiten Frühstück gesessen haben, begeben sich in das große, gemütliche Wohnzimmer der Tagespflege. Nur einer geht nicht mit: Josef Rudolf*. Kaum dass seine Tischnachbarn sich erhoben haben, beginnt der kleine schmale Mann mit schnellen, routinierten Griffen Tassen und Teller abzuräumen. "Gymnastik und Spiele – nee, das ist nichts für mich", sagt er und widmet sich dem nächsten Tisch. Birgit Vogl, die Leiterin der Einrichtung, lacht: "Ihre Welt ist eher die Küche, nicht? Da werden Sie ja auch gebraucht!"

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82 Jahre ist Rudolf jetzt und erstaunlich fit für das, was sein Körper schon durchgemacht hat. Im letzten Jahr überstand er nur knapp eine Entzündung der Bauchspeicheldrüse. Eine späte Folge seines jahrzehntelangen Alkoholkonsums. Sie hatte ihn an den Rand der Verwahrlosung gebracht. Eine Flasche Schnaps, dazu etliche Biere – das war sein tägliches Pensum. Bis er vor acht Jahren in die Gerontopsychiatrische Tagespflege in der Bielefelder Moltkestraße kam und seine Aufgaben in der Küche fand. Von da an schraubte er seinen Alkoholkonsum auf ein bis zwei Flaschen Bier am Abend herunter. Seit der schweren Erkrankung im letzten Jahr trinkt er nur noch Malzbier. 

400.000 der über 60-Jährigen sind alkoholsüchtig

Rudolf ist der zweite suchtkranke Besucher, den das Team von Birgit Vogl derzeit betreut. Durchschnittlich sind zwei bis vier der rund 30 Besucher und Besucherinnen in der Tagespflege suchtkrank. Damit liegt die Einrichtung voll im Trend, wie eine aktuelle Studie im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums zeigt: Etwa 14 Prozent der von ambulanten Pflegediensten und stationären Einrichtungen der Altenhilfe betreuten Menschen haben Alkohol- oder Medikamentenprobleme. Insgesamt geht man in Deutschland von 400.000 Menschen über 60 Jahren aus, die alkoholsüchtig sind. Bis zu 2,8 Millionen ältere Menschen nehmen zu viele psychoaktive Medikamente wie Schlaf-, Schmerz- oder Beruhigungsmittel ein, aufgrund der demographischen Entwicklung mit steigender Tendenz. 

Dennoch werden die Suchtprobleme alter Menschen oft nicht erkannt oder ignoriert. Vor allem die Abhängigkeit von Medikamenten hält Birgit Vogl für "ein großes und vor allem verdecktes Problem". "Es ist immer wieder erschreckend, mit wie vielen Arzneimitteln unsere Besucher kommen." Regelmäßig lässt sie Medikamentenlisten an Hausärzte schicken, mit der Bitte die verschriebenen Mittel zu überprüfen. In 30 Berufsjahren habe sie bisher nur einen Mann getroffen, der einen Entzug von Schlafmitteln machen wollte: "Was der Hausarzt verschreibt, wird nicht in Frage gestellt".

Ist der sorgende Ansatz bei Suchtkranken richtig?

Wie viele andere Pflegekräfte in der Altenhilfe ist Birgit Vogl im Umgang mit suchtkranken Menschen "immer wieder an Grenzen gestoßen": "Ich habe mich oft gefragt: Ist unser sorgender, pflegerischer Ansatz bei Suchtkranken richtig? Müssen wir nicht mal konfrontativ tätig werden? Und wie geht man dann vor?" Nicht lange überlegt hat sie daher, als sie im vergangenen Herbst die Gelegenheit bekam, an einem der acht von der Bundesregierung geförderten Modellprojekte teilzunehmen, die die Zusammenarbeit zwischen Fachkräften der Alten- und Suchthilfe ankurbeln soll. 

Der Koordinator des Modellprojektes in Ostwestfalen ist das diakonische Ausbildungsinstitut Bildung & Beratung Bethel. In mehreren Gesprächsrunden hat sich Birgit Vogl schon mit Kollegen aus Sucht- und Altenhilfe getroffen und gemeinsam Fallbeispiele und Interventionsmöglichkeiten besprochen. Die zweite Austauschrunde steht demnächst an. Das gemeinsam erarbeitete Wissen soll danach in einen internetgestützten Konsiliardienst fließen, also ein Angebot zur gegenseitigen Beratung und Mitbehandlung von Patienten, und in die Aus- und Weiterbildung der Fachkräfte im Pflege- und Suchtbereich. Ziel ist, im Raum Ostwestfalen künftig enger zusammenzuarbeiten und sich gegenseitig zu beraten. "In den Gesprächen habe ich schon viel gelernt, vor allem darüber, was in der Suchthilfe alles möglich ist und welche Angebote es gibt", sagt Birgit Vogl. 

Auch Rudolf war schon Thema. Vielleicht wird er es noch einmal, denn vor ein paar Tagen hat der ambulante Pflegedienst bei ihm eine Flasche Mariacron gefunden. Ein Rückfall, aber Birgit Vogl bleibt gelassen. Das Problem, das zum Rückfall geführt hat, sei mit ihm schon geklärt. "Wir haben die Zeit und den langen Atem, ihm Wege zu einem zufriedenen Leben aufzuzeigen", ist sie sich sicher. Sie kennt ihn ja auch schon so gut, dass sie weiß, wohin ein solcher Weg führen muss: in eine sinnvolle Tätigkeit, zum Beispiel in der Küche.

*Name von der Redaktion geändert


Der Artikel erschien im Rahmen der Wochenserie der Diakonie zur "Aktionswoche Alkohol".