Herr Professor Vieweger, im Nahostkonflikt gibt es neue Bewegung. US-Präsident Obama will, dass sich die Israelis auf die Grenzen von 1967 zurückziehen. Was halten Sie davon?
Vieweger: Der Vorschlag ist konsequent. Im Nahen Osten muss sich etwas tun. Das geht nur, wenn man die UNO-Bestimmungen umsetzt. Dort heißt es, dass die Zustände von 1967 wiederhergestellt werden sollen, um Frieden in gerechten Verhältnissen zu schaffen. Das ist eine Lösung, der man zustimmen kann. Ob sie so einfach durchsetzbar ist, ist eine andere Geschichte.
Es gibt die Furcht, dass die Palästinenser einseitig einen eigenen Staat ausrufen. Was wären die Konsequenzen?
Vieweger: Das hätte vor allem psychologische Bedeutung. Einseitig einen Staat auszurufen, heißt noch nicht, dass er auch existiert. Für einen Staat braucht man eine Ordnung, eine Polizei, Militär, häufig auch eine eigene Währung. Doch zumindest die Westbank gehört vollständig zum Wirtschaftsgebiet Israels. Es gibt dort auch kein richtiges Staatsgebiet. Die israelisch kontrollierten Hauptverkehrswege zerteilen das Gebiet, das die Palästinenser selbst kontrollieren. Diese Aufteilung entspricht der sogenannten Roadmap.
In der Westbank herrscht die Fatah, im Gaza-Streifen die Hamas. Beide haben sich jüngst enger zusammengeschlossen. Eine solche Verbrüderung ist ja im Grunde etwas Gutes, aber hilft sie auch dem Friedensprozess?
Vieweger: Das weiß ich nicht. Bevor man sich zusammenschließt, muss man gemeinsame Ziele haben. Die Anerkennung Israels in den Grenzen von 1967 und der Wille zur friedlichen Koexistenz müsste von beiden Seiten deutlich herausgestellt werden. Es gibt in Israel sehr große Vorbehalte, ob die Hamas zu den Verträgen steht, die bis jetzt geschlossen worden sind. Insofern könnte der kleinste gemeinsame Nenner, den Fatah und Hamas jetzt gefunden haben, zu wenig sein, um eine dauerhafte Friedenslösung zu garantieren.
Es gibt in dem Konflikt sehr viele Aspekte, die eine Rolle spielen. In Ihrem Buch "Streit um das Heilige Land" nennen Sie historische und religiöse Gründe, aber auch wirtschaftliche Fragen wie das Wasserproblem. Welche Bedeutung hat die Religion?
Vieweger: Ich lebe jetzt seit 20 Jahren in der Region, und dies war seit jeher ein Gebiet, das viel religiöser ist, als wir es in Europa seit jeher gewohnt sind. Seither hat die Bedeutung der Religionen noch einmal deutlich zugenommen, auch weil sie ein Auffangbecken für politische Forderungen geworden ist. Wir haben einen Konflikt, der ganz häufig religiös überhöht wird. So hat die Religion keine zügelnde, mäßigende Funktion, sondern trägt zur Verhärtung bei und stärkt jene, die zur Radikalität neigen. Vor allem die Radikalen sind mit religiösen Argumenten stets zur Hand. Aber in Wirklichkeit geht es um Politik, Macht, Grenzen und um Wasser.
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Die Bedeutung der Religion ist gestiegen, und mit ihr die Stärke extremer Kräfte wie der Islamisten oder der ultraorthodoxen Siedler. Das zeigt die Ambivalenz der Religion. Müsste man sich als Theologe dann nicht wünschen, dass die Bedeutung der Religion abnimmt?
Vieweger: Das ist eine ganz schwierige Frage. Religionen sollten ausdrücklich nicht nur für die Mitglieder des eigenen Glaubens einstehen, sondern auch zur Achtung der Anderen, zur Mäßigung und zum Ausgleich aufrufen. Aber im Nahen Osten ist oft zu hören: Abraham ist nicht "unser" Vater – er ist mein Vater, nicht deiner. Religion wird hier missbraucht.
Sie schildern in Ihrem Buch die historischen Wurzeln des Konflikts bis in die jüngste Vergangenheit. Beim Friedensabkommen von Oslo 1993 waren Israelis und Palästinenser schon viel weiter als heute. Warum gibt es immer wieder diese bedrückenden Rückschläge?
Vieweger: Ob man 1993/1994 schon viel weiter war als heute, weiß ich nicht. Aber man war damals willens, eine Friedenslösung herbeizuführen. Es war auch klar, dass auf beiden Seiten große Einschnitte nötig sind. Dieses Bewusstsein gibt es auch noch heute, nur ist es vielen nicht mehr so präsent. Netanjahu steht vor der Frage, wie groß die Einschnitte sein können, damit seine Wähler noch dazu stehen können. Auf der anderen Seite wird die Hamas zugestehen müssen, dass die Existenz Israels unantastbar ist. Das ist Grundvoraussetzung für ein friedliches Zusammenleben. Beide Seiten werden sehr weit über ihren Schatten springen müssen, wenn es ans Eingemachte geht: beim Rückzug der Siedlungen, beim Militär, in der Jerusalemfrage. All diese Fragen sind schon oft erörtert worden, verhandlungstechnisch sind wir also schon weiter. Man weiß etwa, dass man ohne einen Gebietsaustausch nicht auskommen wird. Die Forderung "Grenzen von 1967" wird durch Verhandlungen gerecht modifiziert werden müssen. Ich habe großen Respekt vor allem, was da noch auszuhandeln ist.
Was wird aus Jerusalem?
Vieweger: Die Israelis können die jüdische Altstadt und die Klagemauer nie wieder hergeben. Das ist für sie ein ganz großes Problem, auch emotional. Es gibt Pläne, Jerusalem zu teilen wie beim Clinton-Plan – aber wenn man die Stadt teilt, zerstört man sie. Ich kann mir vorstellen, dass man sich dort frei bewegen kann mit zwei Polizeizuständigkeiten, die zusammenarbeiten. Dann hätte man an den Außengrenzen Jerusalems die Grenzkontrollen. So könnte das klappen.
Die Schwierigkeit im Nahen Osten fängt schon mit den Begrifflichkeiten an. Das "Heilige Land" ist ein christlicher Topos, Palästina stammt als antijüdischer Kampfbegriff schon aus der Römerzeit. Wie viel Sensibilität braucht es?
Vieweger: Bis vor kurzem habe ich von Palästina gesprochen, weil das ein geografischer Begriff war – für das Gebiet südlich von Syrien und nordöstlich von Ägypten, eingeklemmt zwischen Mittelmeer und Wüste. Jetzt aber wird ein künftiger Staat diesen Namen für sich reklamieren. Insofern nimmt man Partei, wenn man von Palästina spricht. Ich habe vorgeschlagen, dass wir von der südlichen Levante sprechen. "Heiliges Land" ist ein christlicher Begriff, aber auch ein jüdischer. Die Araber sprechen manchmal von "Waqf", das bedeutet so viel wie "heilige Stiftung".
Sie sprechen von einem gordischen Knoten, den es zu zerschlagen gilt. Wem trauen Sie die Rolle als Alexander der Große zu?
Vieweger: Gegenwärtig versucht Barack Obama, den gordischen Knoten zu zerschlagen. Er hat Netanjahu deutlich gemacht, dass er von beiden Seiten große Kompromisse verlangt. Auch Palästinenserpräsident Abbas war kürzlich in Washington. Obama hat die Macht, so etwas anzufangen. Ob er solch einen Prozess auch durchsetzen kann, wird man in ein bis zwei Jahren wissen.
Sie wünschen sich einen "emotionalen Aufbruch".
Vieweger: Der muss dort geschehen, wo beide Seiten um eines Friedens willen bereit sind, Kompromisse zu machen. Das geht nicht einfach mit "Krämerseelen", die das eine mit dem anderen verrechnen. Israelis und Palästinenser müssen sich auch bewusst sein, was ein wirklicher Friede bedeuten würde: Dann könnten alle Reisebüros dieser Welt Tickets nach Jerusalem und Umgebung verkaufen – das wäre eine Lizenz zum Gelddrucken, denn drei Milliarden Menschen halten diese Gegend für heilig.
In der Theologie gibt es den Begriff der "Naherwartung". Ist der mit Bezug auf den Friedensprozess in Nahost angebracht?
Vieweger: (lacht) Also, meinetwegen kann Jesus morgen wiederkommen. Ich würde mich auch freuen, wenn es morgen Frieden gäbe. Wir Christen haben nur in den vergangenen 2.000 Jahren gelernt, dass sich die Naherwartung verzögern kann. Das gilt auch für die vergangenen Jahrzehnte des Friedensprozesses. Viele Menschen haben gehofft, dass der Frieden kommt, und sind enttäuscht worden. Wichtig ist, dass man sich den Frieden weiterhin wünscht und real dafür arbeitet.
Prof. Dr. Dieter Vieweger (53) ist Theologe und evangelischer Pfarrer. Er lehrt Archäologie und Ältere Geschichte an der Universität Witten/Herdecke sowie Altes Testament an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal. Seit 2005 ist er leitender Direktor des Deutschen Evangelischen Instituts für Altertumswissenschaft des Heiligen Landes in Jerusalem und Amman. Das Buch "Streit um das Heilige Land. Was jeder vom israelisch-palästinensischen Konflikt wissen sollte" ist im Gütersloher Verlagshaus erschienen (Gütersloh 2010, 288 Seiten, 19,95 Euro). In diesen Tagen erscheint dort sein neues Kinderbuch "Abenteuer Jerusalem. Die aufregende Geschichte einer Stadt dreier Weltreligionen".