An sich ist der Trend erfreulich: Der Alkoholkonsum bei Jugendlichen ist auf den niedrigsten Stand seit den 1970er Jahren gesunken, wie der gerade veröffentlichte Drogen- und Suchtbericht der Bundesregierung zeigt. Doch wenn Jugendliche zur Flasche greifen, dann tun sie es häufig exzessiv: Jeder Sechste der 12- bis 17-jährigen ist laut einer aktuellen Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung "Binge"-Trinker“. Das heißt nach der Definition der Studie: Er oder sie kippt in kurzer Zeit mehr als fünf Gläser alkoholische Getränke in sich hinein. Manche so viel, wie es eben geht, im Extremfall bis zur Bewusstlosigkeit - daher der weitverbreitete Begriff "Koma"-Saufen.
Wie kann das Problem eingedämmt werden? Was können Eltern tun, um ihr Kind zu schützen? Ein Gespräch mit Dr. Theo Wessel, Geschäftsführer des Gesamtverbandes für Suchtkrankenhilfe, dem Fachverband der diakonischen Suchthilfe (Foto: Biehahn).
Was treibt Jugendliche zum exzessiven Trinken?
Theo Wessel: Die Gründe sind bei den Geschlechtern unterschiedlich verteilt. Die Jungen sagen meist, dass sie so viel trinken, um "Spaß zu haben". Und dass sie mit dem Alkohol offener und kontaktfreudiger werden. Mädchen trinken eher exzessiv, um Probleme zu verdrängen und um sich nicht ausgeschlossen zu fühlen.
Ist das Binge-Trinken eher ein Problem von sozial benachteiligten Jugendlichen?
Wessel: Nein, überhaupt nicht. Es ist über alle Schichten verteilt. Eine Statistik der DAK aus dem Jahr 2009 zeigt für Berlin im Stadtteil Charlottenburg, einem überwiegend gut-bürgerlichen Wohnviertel, sogar einen Anstieg der Fälle von Rauschtrinken, während das Problem in Lichtenberg, einem eher armen Stadtteil, zurückging. Auch die Geschlechter gleichen sich an. Die Mädchen holen stark auf - leider.
Welche Rolle spielt die Gesellschaft bei diesem Phänomen? Die Deutschen stehen europaweit beim Alkoholkonsum immer noch auf den vorderen Plätzen….
[listbox:title=Mehr im Netz[Die Webseite der "Aktionswoche Alkohol"##Wochenserie der Diakonie zum Thema Alkohol (bis zum 27. Mai)]]
Wessel: Richtig, die Jugendlichen sind eigentlich nicht das Thema, sondern die Erwachsenen. Denn sie verursachen das Problem und ändern es nicht. Die Erwachsenen stellen die Alkoholika her und stimmen sie mit Zucker und Fruchtaromen auf den Geschmack der Jugendlichen ab. Sie versprechen ihnen über die Werbung sexuellen Erfolg und Attraktivität. Sie verkaufen den Alkohol am Jugendschutzgesetz vorbei an Minderjährige. Und sie sind für Jugendliche Vorbilder im Trinkverhalten. Denn was häufig nicht gesehen wird: Auch bei den Erwachsenen hat sich die Zahl der Alkoholvergiftungen in den letzten Jahren stark erhöht. Veranstaltungen wie der Karneval oder das Münchner Oktoberfest sind riesige Binge-Trink-Ereignisse.
Was fordern Sie von der Gesellschaft? Das Oktoberfest abzuschaffen…?
Wessel: Nein, natürlich nicht. Auch den Konsum von Alkohol kann man nicht verbieten. Erfolg verspricht vielmehr eine Kombination aus Verhaltens- und Verhältnisprävention. Das heißt: Wir müssen einerseits am Verhalten des einzelnen Jugendlichen ansetzen. Dazu gibt es wirksame Programme wie "HaLt" oder "Hart am Limit". Doch insgesamt stehen für Suchtprävention jährlich nur 30 Millionen Euro zur Verfügung. Für Alkohol-Werbung dagegen wird in Deutschland jährlich über eine Milliarde Euro ausgegeben. Die Zahlen zeigen die krasse Schieflage in unserem Land, die wir verändern müssen.
Wir brauchen grundsätzlich ein Werbeverbot für Alkohol bei Jugendlichen. Daneben höhere Preise für alkoholische Getränke, weil das die Nachfrage sinken lässt. Und einen aktiven Jugendschutz, für den sich jeder in unserer Gesellschaft verantwortlich fühlen muss. Erwachsene müssen hinschauen und eingreifen, wenn schon 13-Jährige trinken. Wegschauen ist keine Lösung, dazu gibt es eine beispielhafte Initiative unter anderem vom Landkreis Karlsruhe und der Evangelischen Stadtmission: "Leben pur". Dort ziehen Behörden, Vereine und Bürger an einem Strang und setzen sich beispielhaft für Suchtprävention bei Jugendlichen ein.
Was können Eltern tun, um ihr Kind vor Alkoholmissbrauch zu schützen?
Wessel: Es gibt vier Faktoren, die sich in der Erziehung als wirksam herausgestellt haben: Unmissverständliche Regeln im Umgang mit Alkohol aufstellen, deren Einhaltung kontrollieren, eindeutige Botschaften formulieren und selbst ein positives Vorbild für die Kinder sein. Wenn es doch zu einem Alkoholmissbrauch kommt, sollten Eltern auf jeden Fall im Gespräch mit den Kindern bleiben, ihnen zuhören, ansprechbar bleiben und sich auch selber Hilfe holen – etwa bei den Fachleuten in einer Sucht-, Jugend oder Erziehungsberatungsstelle.
Das Interview erschien im Rahmen der Wochenserie der Diakonie zur "Aktionswoche Alkohol"