Streifzug durch das protestantische Dresden
Heute beginnt der Deutsche Evangelische Kirchentag in Dresden. Grund genug, die Residenz im Stammland der Reformation näher kennenzulernen: Denn Dresden hat weit mehr zu bieten als die Frauenkirche und eine bezaubernde Flusslandschaft.
24.05.2011
Von Martin Rothe

Dem italienischen Schriftsteller Umberto Eco blieb es vorbehalten, Sachsens Hauptstadt endgültig in diejenige Liga aufzunehmen, in der sie sich selbst schon seit drei Jahrhunderten verortet: Es gebe zwei Kategorien von Städten, so der Autor nach einem Dresden-Aufenthalt: In den meisten Städten würden Besucher gefragt, ob es ihnen gefallen habe. In gewissen anderen hingegen laute die Frage: "Es hat Ihnen gefallen, nicht wahr?" Als Beispiele nannte er Rom, Venedig, Paris, London, New York – und Dresden. An der Elbe nahm man es befriedigt und gelassen zur Kenntnis.

Egal ob säkularisierter Maschinenbaustudent, evangelische Kirchenmusikerin, aus Hessen zugezogener Ministerialrat, DDR-nostalgische Verkäuferin oder musischer Mediziner mit Elbhang-Villa: Der Stolz auf ihre glanzvolle Halbmillionen-Stadt verbindet alle Dresdner Milieus. Das gilt auch für die 16 bis 19 Prozent Protestanten in der zu drei Vierteln säkularisierten Stadt. Vielleicht sogar in noch stärkerem Maße. Denn viele von ihnen – vor allem die Älteren – sind stolz auf "ihre" Frauenkirche, das wieder erstandene Symbol des barocken Dresden.

Schicksalstag im Februar

George Bährs "Steinerne Glocke" ist nur eine von insgesamt drei überregional bedeutetenden Kirchengebäuden im Herzen Dresdens. Aber in diesem Gotteshaus verdichtet sich auf einzigartige Weise die Geschichte Dresdens und seines Protestantismus: In den 1730er Jahren erbaut, war die Frauenkirche der erste evangelische Monumentalbau: ein Abbild von Glauben, Selbstbewusstsein und Wohlstand des Dresdner Luthertums. Und ein bürgerlicher Kontrapunkt zur katholischen Hofkirche, der heutigen Kathedrale jenseits des Schlosses.

Die Frauenkirche war ein Abbild von Glauben, Selbstbewusstsein und Wohlstand des Dresdner Luthertums. Nach der Bombardierung der Stadt am 13./14. Februar 1945 lag die Frauenkirche in Trümmern, das Lutherdenkmal umgekippt und beschädigt. Foto: Chomsor

Luthertum und Hochkultur hielten jedoch in den 1930er Jahren tausende Dresdner nicht davon ab, begeistert den Nazis zu folgen. In Reaktion auf deren Kriegsverbrechen wurde am 13. Februar 1945 die Innenstadt von angloamerikanischen Flugzeugen in ein Flammeninferno verwandelt. Zwei Tage danach brach die riesige Kuppel der Frauenkirche zusammen. Seither hält Dresden jedes Jahr am 13. Februar um 21.45 Uhr inne: Während alle Glocken der Stadt läuten, gedenken die Einwohner an den Beginn der Stadtzerstörung.

"Schwerter zu Pflugscharen"

1982, zur Zeit des Kalten Krieges, nutzten mutige Jugendliche und Kirchenleute den Gedenktag, um nach einem Gebet in der Kreuzkirche mit Kerzen zur Frauenkirch-Ruine zu ziehen und für den Frieden zu demonstrieren. Und damit auch gegen den Militarismus des SED-Staates. Es verlangte einigen Mut, den Aufnäher "Schwerter zu Pflugscharen!" (nach Micha 4,3) auf der Jacke zu tragen. Diese Friedensdemonstration wurde in den Folgejahren wiederholt und wuchs sich aus zum Dresdner Kapitel der Friedlichen Revolution.

Als sie DDR-weit geglückt war und der bundesdeutsche Kanzler Helmut Kohl am 19. Dezember 1989 vor der Frauenkirche Einheit und D-Mark in Aussicht stellte, mussten dieselben mutigen Kirchenleute – ein versprengtes Häuflein inmitten tausender "Helmut"-Fans – erleben, dass sie wegen kritischer Anfragen an schnelle Heilsversprechen beinahe tätlich angegriffen wurden.

Mehr Rom als Galiläa

Es folgte die glanzvolle Restaurationsphase barocker Quartiere in Dresden, gipfelnd in der feierlichen Weihe der wieder errichteten Frauenkirche im Oktober 2005. Deren grenzüberschreitender Ruhm verhilft heute der Citykirchen-Arbeit vor Ort zu einer beeindruckenden Reichweite: Viele hundert Besucher werden täglich durch die Frauenkirche geführt. Aller 15 bis 30 Minuten gibt es einen geistigen Impuls, zweimal werktäglich eine Orgelandacht. "Nicht zuletzt Menschen, für die die Schwelle in ihren Heimatorten zu hoch ist, finden hier den Weg in eine Kirche", sagt Sachsens Landesbischof Jochen Bohl.

Es sei nicht immer leicht, die Touristen zum Innehalten zu bewegen, berichtet Frauenkirchpfarrer Holger Treutmann: "Wer sich aber Zeit nimmt, sich von Musik, Wort und Blick in der Kirche anreden zu lassen, verlässt die Kirche ein wenig verändert; nachdenklicher vielleicht, versöhnter, so hoffen wir." Manch einer findet auch zum alljährlichen Glaubenskurs für Neugierige, den Frauen- und Kreuzkirche in der Passionszeit anbieten. Die Mehrheit der Teilnehmer lässt sich daraufhin zu Ostern taufen oder konfirmieren.

Die viel beschworene Friedens- und Versöhnungsarbeit an der Frauenkirche (Foto: epd-bild) nimmt sich dagegen derzeit eher bescheiden aus: De facto scheint sie beschränkt auf ein alle zwei Jahre stattfindendes Seminar mit Jugendlichen und auf die jährliche Rede eines Friedensnobelpreisträgers – mit der man sich dann in den hauseigenen Hochglanzbroschüren schmücken kann. Selbstvermarktung und Fundraising laufen jedenfalls wie am Schnürchen. Von diesem Ort dürfte so schnell keine Revolution mehr ausgehen.

Offen für Kirchenferne

Wer weniger "Rom" und mehr "Galiläa" sucht, wird in Dresden anderswo fündig. Zum Beispiel in der evangelischen Apostelkirche im nordwestlichen Stadtteil Trachau. Dort hat die Gemeinde ihre Räume geöffnet für Jugendliche. Und zwar für solche, die eigentlich "nicht so auf das Kirchenzeug stehen" – wie Steffi (18) es ausdrückt. Sie macht gerade eine Ausbildung zur Gebäudereinigerin und kommt jetzt regelmäßig zum Jugendtreff. Der entstand, als Trachauer Anwohner sich ärgerten über junge Leute, die mit Bierflaschen auf der Straße herum lungerten und Lärm machten. Einer aus der Apostelgemeinde sprach dann die Jungs und Mädels an: "Wollt ihr nicht reinkommen?"

Von denen, die sich heute mehrmals wöchentlich im Jugendkeller treffen – mal zum Dart spielen, mal zum Videoschneiden – versteht sich keiner als religiös. Aber wenn Kirchen-Sozialarbeiter Otfried Kotte (58) mit ihnen im Sommer auf dem gemeindeeigenen Motorboot die Elbe hinab nach Hamburg fährt, wenn er abends mit ihnen am Lagerfeuer sitzt, dann kommen die Fragen von ganz allein: "Wie ist das mit Eurer Kirche? Glaubst Du das wirklich?" Kotte sagt, er werde nicht dafür bezahlt, Christen zu rekrutieren. Aber er weiß aus solchen Lagerfeuer-Gesprächen: "Die natürliche Religiosität der jungen Leute ist nach wie vor vorhanden. Sie wird bloß anders ausgelebt. Und darauf müssen wir reagieren." Jesus sei schließlich auch rausgegangen zu den einfachen Leuten am Rand.

Die Ökumene lebt

Ähnlich denken engagierte Leute von der Dreikönigskirche in der Neustadt. Dort und in sechs weiteren Kirchengemeinden der Stadt findet von November bis März das Obdachlosen-Nachtcafé statt: Männer und Frauen, die sonst die Frostnächte über im Freien wären, bekommen hier eine sichere Unterkunft und warmes Essen. Sie können duschen, ihre Wäsche waschen und sich weitervermitteln lassen an Beratungsstellen. Und das fünf Wintermonate lang täglich – reihum in einer der sieben Kirchen. Im März 2011 wird das deutschlandweit einmalige Projekt seine 15. Saison abschließen. Dieses Mal waren vier lutherische, zwei katholische Gemeinden und die Heilsarmee dabei.

Das Nachtcafé ist ein Beispiel für das gute Miteinander der Konfessionen im Elbtal – in diesem Fall zugunsten Dritter. "Anderswo in Ostdeutschland hat die ökumenische Offenheit seit 1990 abgenommen. Aber in Dresden ist das nicht so", sagt Annemarie Müller. Sie ist Geschäftsführerin des bundesweit ersten Ökumenischen Informationszentrums (ÖIZ). Es liegt unweit des Altmarktes, ein paar Stockwerke über einer evangelischen Buchhandlung und einem Weltladen-Restaurant.

Das ÖIZ entstand vor 20 Jahren aus dem Geist des sogenannten Konziliaren Prozesses für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung. 1988/89 hatten sich Vertreter der verschiedenen Kirchen in der DDR zu einer dreiteiligen Ökumenischen Versammlung getroffen. In Dresden fand deren erste und letzte Tagung statt. In der Rückschau war diese Ökumenische Versammlung eine inhaltliche und personelle Vorbereitung auf das Revolutionsjahr 1989/90. Ein Intensivkurs in wirklicher Demokratie. Viele der Teilnehmer tauchten wenige Monate danach wieder auf als die führenden Köpfe der neu gegründeten Parteien in Ostdeutschland. Ganze Passagen des Dresdner Abschlussdokumentes fanden Eingang in die Parteiprogramme.

Hüter des Revolutionsfeuers

Einer der Aufträge dieser Versammlung an die Kirchen war, vor Ort ökumenische Begegnungs- und Bildungszentren zu gründen – die von den lokalen Konfessionen gemeinsam getragen werden. In Dresden nahm diese Idee Gestalt an: in Form des ÖIZ. Den widerständigen Geist von damals haben sich seine Mitarbeiter bis heute erhalten. Zugleich ließen sie sich ein auf inzwischen sehr veränderte Bedingungen. Das Ökumenische Informationszentrum setzt sich heute ein für den christlich-muslimisch-jüdischen Dialog, berät Migranten und trainiert friedliche Konfliktlöser. Es bietet Kinderseminare zu Umweltschutz und Nord-Süd-Gerechtigkeit an und unterhält Aufbau-Projekte in Vietnam, Tansania und Serbien. Um nur einiges zu nennen.

Das innerstädtische Echo auf diese Arbeit scheint jedoch begrenzt. Zudem ist das ÖIZ chronisch unterfinanziert. Manche, die es seit den Anfängen unterstützen, sprechen von einem "stillen Tun im Verborgenen". Tatsächlich: Die Ansprache neuer Milieus und Spenderkreise könnten diesem kleinen mutigen Institut weiterhelfen. Denn die revolutionären Gedanken der Kirche der achtziger Jahre sind es wert, weitergetragen und weiterentwickelt zu werden.

Ein wichtiger Schauplatz des 89er-Herbstes liegt dem Ökumenischen Informationszentrum direkt gegenüber: die wuchtige, dunkle Kreuzkirche am Altmarkt (Foto). Ihr damaliger Superintendent Christof Ziemer, seinerzeit Moderator der Ökumenischen Versammlung, hatte maßgeblichen Anteil daran, dass der Dresdner Showdown zwischen Stasi und Demonstranten am 8. Oktober friedlich verlief. Das Dresdner Rezept "Keine Gewalt! Dialog ist möglich!" sollte am nächsten Tag in Leipzig den Durchbruch bringen. In der Kreuzkirche sammelten sich kurz darauf tausende Demonstranten, um zu erfahren, was ihre spontan ausgewählte Abordnung – die legendäre "Gruppe der 20" - beim Gespräch mit den Staatsorganen erreicht hatte.

Zentrum der Kirchenmusik

Übrig geblieben aus dieser Zeit sind die wöchentlichen Friedensgebete in dem riesigen Kirchenschiff, das nach den Kriegszerstörungen mit schlichtem Rauhputz versehen wurde. Zum Vorteil der Akustik. Denn die Kreuzkirche ist der kirchenmusikalische Mittelpunkt des evangelischen Dresden: Der fast 800-jährige Kreuzchor hat hier seine Heimstatt. Wenn seine 120 Sängerknaben – die "Kruzianer" – nicht auf Konzerttournee sind, gestalten sie samstags die musikalischen Vespern: Bach, Schütz, Mendelssohn und Brahms gehören zum festen Repertoire.

Sonntags wird für einen protestantischen Gottesdienst vergleichsweise viel Gepränge entfaltet: Zum Präludium der großen Jehmlich-Orgel ziehen gemessenen Schritts Pfarrer und Altarsänger ein, gewandet in schwarze Kurrendemäntel mit liturgischen Kragen, flankiert von zehnjährigen Kerzenträgern. Es folgen Wechselgesänge zwischen Altarchor und Hauptchor auf der Orgelempore. Evangelium und Epistel des Sonntags werden komplett gesungen – von einem jungen Tenor und Bass aus dem Chor.

Zur Christvesper stehen Tausende Schlange

Rudolf Mauersberger, der 1930 bis 1971 als "25. Evangelischer Kreuzkantor" amtierte und dem Chor zu Weltruhm verhalf, verpflanzte erfolgreich Bräuche seiner erzgebirgischen Heimat in die Residenzstadt: Jährlich drängen sich zehntausend Menschen zu den beiden Christvespern mit erzgebirgischen Turmgesängen. Und am darauffolgenden 25. Dezember stehen fünftausend Dresdner in aller Herrgottsfrühe Schlange, um 6 Uhr die Christmette mitzuerleben: das musikalische Krippenspiel der Kruzianer in der Tradition der mittelalterlichen Mysterienspiele.

So repräsentiert auch die Kreuzkirche die Charakteristika des evangelischen Dresden: traditionsliebenden Kunstgenuss und Zivilcourage aus protestantischem Geist. Und eine kräftige Portion sächsischen Lokalpatriotismus.


Martin Rothe ist freier Journalist und lebt in Frankenthal. Sein Porträt über das evangelische Dresden ist in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift "zeitzeichen" (Nr 6/2011) erschienen.