Oslo, Wien, Amsterdam, Turin und Paris. Dies werden die Stationen der Europa-Tournee im Frühjahr 2012 sein, auf der Christoph Prégardien - erstmals als Dirigent - die Johannes-Passion von Johann Sebastian Bach mit dem Barockorchester Le Concert Lorrain aufführen wird. Es ist die weitere Stufe eines herausragenden künstlerischen Werdegangs im Zeichen von Kontinuität und Entwicklung.
Seit Jahrzehnten Bach-Experte
"Jesus ging mit seinen Jüngern über den Bach Kidron", lautet die erste Rezitativzeile des Evangelisten in der Johannes-Passion unmittelbar nach dem Eingangschoral "O Mensch, bewein dein Sünde groß". Der Evangelist ist der "Reporter" in diesem grandiosen Stoff vom Leiden und Sterben Jesu, der "Anchorman", wenn man dies in den Kategorien der modernen Medien ausdrücken möchte.
Dramaturgisch betrachtet, ist er das "Relais" zwischen Orchester, Chor und den übrigen Solisten. Wenn der 55-jährige Tenor diesen eminent wichtigen Part innehat, pflegt das Publikum in den Konzerthäusern der Welt in ein Ereignis einzutauchen, dem eine besondere Aura zu Eigen sein wird.
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Zuletzt in den USA. Dort gestaltete der lyrische Tenor die Partie an drei Abenden zu Ostern in Boston mit dem Boston Symphony Orchestra unter Masaaki Suzuki. Mit dem Bach-Spezialisten, seit zwei Jahrzehnten künstlerischer Leiter des Bach Collegiums Japan und seit 2009 Professor für Chorleitung an der Yale University in New Haven, hat Prégardien schon mehrfach konzertiert, übrigens auch in Japan.
Extreme Herausforderung
Ob nun die Passionen Bachs nach Johannes (in welcher Version auch immer) oder Matthäus – die Werke des Leipziger Thomaskantors sind dem gebürtigen Limburger selbst zur Passion geworden. In Interviews sagt der Künstler, dessen Laufbahn bei den Limburger Domsingknaben begann, in jeder Aufführung der Passionen Bachs erlebe er die Geschichte wie beim ersten Mal. Er kenne da keinerlei "Abnutzungserscheinungen". Und das nach mehr als einhundert Aufführungen.
Dabei verlangt gerade die Johannes-Passion dem Interpreten des Evangelisten besonders viel ab, weil – anders als bei der nach Matthäus – dieser kontinuierlich gefordert wird. Eine Tortur für den Sänger? Nicht für Prégardien. Er freue sich in der Johannes-Passion geradezu auf den bitterlich weinenden Petrus, lässt er in sich blicken.
Auf diesen emotionalen Moment, "in dem der Evangelist sein strenges Referat fast vergisst und das Geschehen zu kommentieren scheint". Eine außergewöhnliche Affinität eines Künstlers zu seinem Stoff, zu seinem Metier, erklärbar nur aus der Hingabe an die Musik und der Unabdingbarkeit künstlerischen Wollens, womöglich einer Liebe zu den Protagonisten und den Botschaften der Passionen, wovon er aber keinerlei Aufhebens macht.
Eine weitere Facette: Schubert-Lieder
Duisburg im Frühjahr. Prégardien - für ein Jahr "Artist in Residence" in der Stadt - gibt in der Mercatorhalle einen Liederabend mit Franz Schuberts "Winterreise". Es tritt an diesem April-Abend nicht das übliche Tandem Sänger/Pianist auf. Die Version für Tenor, Akkordeon und Bläserquintett in Zusammenarbeit mit dem kanadischen Ensemble Pentaèdre gewinnt dem Liederzyklus über die Entsagung von der Welt eine ungewohnte, zugleich inspirierende Dimension ab.
Der Abend macht die weitere große Facette des Tenors bewusst – die des Liedsängers. Gerade durch die Interpretation von Schubert-Liedern in künstlerischer Gemeinschaft mit den von ihm favorisierten Klavierpartnern Michael Gees und Andreas Staier hat sich Prégardien den Ruf eines Ausnahmekünstlers in dieser Sparte erworben.
Im Juni gibt es eine Reihe von Gelegenheiten, den Liedsänger zu erleben, so in Heidenheim (3.), Echternach/Luxemburg (5.), Stuttgart (25.). Besonders reizvoll: das Projekt "Vater und Sohn" am 25. August beim Edinburgh-Festival in Schottland, ein Liederabend gemeinsam mit Sohn Julian. Der 26-jährige, Tenor wie sein Vater, ist Ensemblemitglied der Oper Frankfurt und in der aktuellen Spielzeit unter anderem als Tamino ("Zauberflöte") und junger Seemann ("Tristan und Isolde") zu erleben. Auch er hat bereits Erfahrungen als Evangelist gesammelt.
Als Junge im Kirchenchor
A propos Oper: Von der Rolle des Grimoaldo in Händels "Rodalinda" (1991) über Don Ottavio in Mozarts "Don Giovanni" (1995), Almaviva in Rossinis "Barbier von Sevilla" bis zum Titus in der gleichnamigen Mozart-Oper (2006) reicht das Spektrum der Figuren, die Prégardien in diesem Genre verkörpert hat. Von Chailly, Gardiner über Harnoncourt und Herreweghe bis zu Bruno Weil, das der Dirigenten, mit denen er zusammengearbeitet hat. Allerdings macht sich der Sänger auf den Opernbühnen inzwischen äußerst rar. Ein Tribut seiner Passion für die Passionen Bachs? Für die Verfeinerung der Kunst des Liedes?
Seine Wegbegleiter beschreiben ihn, seit 2004 Professor an der Musikhochschule Köln, als einen Menschen ohne Hang zum Prätentiösen, zum Glamour. Er distanziert sich von den Applikationen eines Musikbetriebs, der den Starkult bedient, um die Medien mit ihrem liebsten Futter satt zu machen. Seine Wurzeln im Elternhaus zu Limburg scheinen ihn bis heute vor derlei Flirts mit der Oberflächlichkeit zu schützen. Musik bestimmte den Alltag. Der Vater trat als Sänger auf, die Mutter spielte Klavier. Der Junge sang mit seinen Geschwistern im Kirchenchor.
Auf diesem Hintergrund erscheint sein Engagement für die frühkindliche Musikerziehung besonders glaubwürdig. Eigentlich, betont er, müsse man schon im Kindergarten singen lernen. Doch dem stehe schon die Ausbildung der meisten Erzieherinnen im Wege. Ein großes Thema und eine neuerliche Passion vielleicht, hier kulturpolitischer Natur. Irgendwie typisch für Christoph Prégardien.
Ralf Siepmann ist Medienjournalist und freier Autor in Bonn.