Es gibt Regisseure, die sich längere schöpferische Pausen gönnen. Der finnische Regisseur Aki Kaurismäki hat im letzten Jahrzehnt gerade einmal zwei Langfilme - neben Kurzfilmarbeiten - gedreht. Das ist natürlich nichts gegen die Legende Terrence Malick, die es in vier Jahrzehnten auf gerade mal fünf Filme brachte und in Cannes mit "Tree of Life" dabei ist. Aber man hat Kaurismäki mehr vermisst, seinen unverwechselbaren Stil, seine Lakonie, aber auch sein Vermögen, von den Schwachen der Gesellschaft herzerwärmend zu erzählen.
Nun, der Regisseur von "Wolken ziehen vorüber" (1996) kann es immer noch. Und hat hier in Cannes mit "Le Havre" einen seiner besten Filme vorgestellt, der wie immer Komödie mit Tragik verbindet, der ein soziales Thema ohne Mitleidsheischerei angeht und der mit einem leisen Humor ganz ohne Schenkelklopfer-Gags auskommt. Nach der Vorführung gab es jedenfalls den meisten Beifall seit der französischen Stummfilmhommage "The Artist".
Die großen Themen werden verhandelt
Es geht um illegale Migration, aber nicht nur. Sondern auch um Tod, Liebe, Freundschaft und Solidarität. Der Schuhputzer Marcel Marx arbeitet in der Nähe des Bahnhofs von Le Havre und lebt ein beschauliches Leben, in einem kleinen Häuschen mit seiner liebevollen Frau Arletty, der Hündin Laika und kleinen Abstechern in seiner Stammkneipe. Irgendwann muss er in dieses Leben abgesackt sein, denn einst gehörte er zur Boheme von Paris. Aber seine Erfolge waren eher künstlerisch, sagt er einmal. Für solche Dialoge liebt man Kaurismäki.
Als er einmal sein Mittagessen am Hafen einnimmt, sieht er einen afrikanischen Jungen, Idrissa, versteckt im Wasser. Und das wird sein Leben verändern, denn er nimmt sich des Jungen an. Parallel dazu muss seine Frau ins Krankenhaus, Diagnose: hoffnungslos. Aber sie will es Marcel nicht erzählen, weil er trotz seines Alters ein großer Junge geblieben ist. Und ein Kommissar erhält den Auftrag, den Jungen zu schnappen. Bei der Flucht des Jungen nach England, wo er seine Mutter wiedertreffen will, helfen dann alle mit: der Gemüsehändler, der sonst die Roll-Läden runterlässt, wenn Marcel vorbeikommt, die Bäckerin, ja selbst der Kommissar.
Vieles kommt einem aus früheren Kaurismäki-Filmen bekannt vor: die hässliche Hafenfassade von Le Havre könnte auch irgendwo im hohen Norden sein, die Figuren sprechen sehr stilisiert, mit André Wilms, Kati Outinen und Jean-Pierre Léaud (der einen Denunzianten spielt) sind Darsteller aus seinen früheren Filmen dabei, die Interieurs hat er wie immer sehr kalt und zurückhaltend einrichten lassen.
Märchen über Mitgefühl und Menschlichkeit
Natürlich ist dieser Film so etwas wie ein Märchen, kein akribisch recherchierter Reißer zur Flüchtlingsproblematik. Dazu passt auch der irgendwie zeitlose Look dieses Films mit seinen alten Autos und die glücklichen Fügungen, die bei diesem Film zuhauf eintreffen. Aber ein Märchen über Mitgefühl und Menschlichkeit, das überall spielen könnte. Oder, wie Kaurismäki meint, fast überall. Denn auf der Pressekonferenz wurde er gefragt, wieso denn dieser Film komplett in Frankreich gedreht wurde. Und er hat einen Satz gesagt, den auch eine seiner Figuren hätte aussprechen können: "Niemand ist so verzweifelt, dass er nach Finnland kommen will."
"Le Havre" ist sicherlich einer der eingängigeren Filme dieses Festivals, nicht mit Bedeutung überladen wie "Tree of Life" oder auch der japanische Wettbewerbsbeitrag "Hanezu no Tsuki" von Naomi Kawase, eine Dreiecksgeschichte mit mythischen Wurzeln. Und auch wenn das Festival nur die erste Hälfte hinter sich hat, sei spekuliert: Ein Kandidat für einen der Preise ist Kaurismäkis Comeback auch.