Sterbehilfe: Wem gehört mein Leben?
Sterbehilfe ist unter protestantischen Christen umstritten. Während in Deutschland die evangelischen Kirchen aktive Sterbehilfe einhellig ablehnen, engagieren sich Schweizer Pfarrer als Sterbehelfer. Bei dieser Suizidhilfediskussion geht es um theologische Fragen, die sich nicht allgemeingültig beantworten lassen.
16.05.2011
Von Frank Mathwig

Begleiteter Suizid ist auf den ersten Blick ein altes Phänomen. Der schwerverletzte König Saul fordert von seinem Waffenträger Suizidhilfe, um nicht in die Hände der Feinde zu fallen. Auch die Sehnsucht nach dem Tod als Erlösung von einem quälenden, leidvollen Leben  ist der Bibel nicht fremd. Schließlich enthalten sich die biblischen Suizidschilderungen von Abimelech, Simson, Saul und seinem Waffenträger, Ahitofel im Alten sowie Judas im Neuen Testament auffällig jedes moralischen Kommentars.

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Wie passt diese Beobachtung zu den aktuellen Kontroversen um Sterbehilfe und Suizidhilfe? Was damals offenbar unspektakulär zur Sprache kommen konnte, wird heute zum Anlass heftiger Auseinandersetzungen. Natürlich können die Diskussionen um Suizid- und Sterbehilfe nicht mit den Schicksalen der Personen aus der Bibel auf eine Stufe gestellt werden: Die prekäre Lage des gefangenen Simson lässt sich nicht mit der Leidenssituation von Menschen in der terminalen Krankheitsphase vergleichen. Und König Saul eignet sich in seiner militärischen Niederlage schlecht als Prototyp für einen Suizidhilfekandidaten. Solche Vergleiche und Analogien hinken – aber warum eigentlich?

Früher wie heute: Lebensschutz oder Lebensqualität?

Aus ethischer Sicht unterscheidet sich die Situation der Menschen damals und heute nicht wesentlich. Die Motive haben sich verändert, doch die Verzweiflung am eigenen Leben ist die Gleiche geblieben. Die Umstände sind andere geworden, nicht aber die Sehnsucht nach Erlösung aus einer ausweglos erscheinenden Lebenslage. Grundlegend gewandelt haben sich dagegen die Art und Weise, wie die Verzweiflungstat und der Wunsch nach Unterstützung wahrgenommen werden. Geht es in den biblischen Schilderungen um das Geschick von Menschen in ihrem Leben mit und vor Gott, so betrachten wir heute Fragen um Leben und Tod vornehmlich im Licht der Möglichkeiten und Grenzen menschlicher Freiheit und Selbstbestimmung.

An dieser holzschnittartigen Gegenüberstellung schließt auch manche ethische Debatte an: Für die einen gelten ausschliesslich der subjektive Sterbewunsch oder die statistisch ermittelte Lebensqualität (Quality of Life) als Entscheidungskriterien; die anderen behaupten die Selbstzweckhaftigkeit des Lebens und erheben den – mehr oder weniger unbedingten – Lebensschutz (Sanctity of Life) zum Prinzip.

Gott kann Lebenswillen auch einschränken

Es geht nicht darum, eine der beiden Positionen zu diskreditieren. Beide Seiten können gute Argumente für sich in Anspruch nehmen. Die kontroversen Haltungen sind je auf ihre Weise ein ethischer Stachel, der sich – theologisch gewendet – mit Karl Barth auf die beiden Formeln zuspitzen lässt: "Das Leben ist kein zweiter Gott" und "Es wird regiert." Der erste Satz fällt im Rahmen von Barths Überlegungen zum Verhältnis von Ethik und leiblichem Leben bzw. der Frage nach der Ehrfurcht vor dem Leben. 

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Der Schweizer Theologe erklärt: "Das Leben ist kein zweiter Gott und so kann die ihm geschuldete Ehrfurcht der vor Gott nicht gleich sein. Sie ist vielmehr limitiert durch das, was Gott von dem von ihm erwählten und berufenen Menschen haben will. Ihm gehört ja des Menschen Leben. Er leiht es ihm ja. Und eben er verfügt darüber, in was sein rechter Gebrauch bestehen soll. Er verfügt und entscheidet in seinem Gebot auch darüber, in was des Menschen Lebenswille jeweils bestehen und nicht bestehen, wie weit er als solcher gehen und nicht gehen soll.

Und was Gott von dem Menschen haben will, deckt sich nicht einfach damit, dass dieser leben – für sich und im Zusammenhang mit den Anderen leben wollen soll. Gott kann des Menschen Lebenswillen für sich und im Zusammensein mit den Anderen auch einschränken, auch schwächen, auch brechen, schließlich auch aufheben wollen. Er tut das auch wirklich. Und wenn er das tut, dann darf ihm der Gehorsam auch nicht versagt werden."

Folgt Ethik aus der Theologie?

Das sind radikale und irritierende Aussagen. Barth selbst bemüht sich gleich anschließend um eine angemessene Kontextualisierung: Es geht um eine ultima ratio-Entscheidung, um den "Grenzfall" auf den "Grenzen des Lebens". Die Provokation verschwindet dadurch nicht. Einerseits bürstet der Theologe unsere Vorstellungen von dem liebenden Gott gegen den Strich. Andererseits hinterfragt er unsere moralischen Intuitionen über das Leben, seinen Status und seine Schutzwürdigkeit.

Barth lenkt den Blick auf einen wunden Punkt der theologisch-ethischen Diskussionen um Leben und Tod: die Vermischung bzw. Verwechslung von theologischen und ethischen Fragestellungen. Aus dem Glauben an Gott als den Schöpfer allen Lebens wird ein ethisches Prinzip des Lebensschutzes abgeleitet. Und aus dem Schöpfungsauftrag an den Menschen werden umgekehrt theologische Aussagen über die menschliche Entscheidungshoheit am Ende des Lebens herausdestilliert.

Ist das eigene Leben Geschenk oder ein geliehenes Gut?

Man kann die Schwierigkeiten beim Übergang von theologischen Aussagen zu ethischen Forderungen an der Rede vom geschöpflichen Leben verdeutlichen: Wird das Leben als Leihgabe Gottes verstanden, dann ist meine Entscheidungsfreiheit darüber begrenzt, wie bei einem geliehenen Buch. Wird es dagegen als Gabe bzw. Geschenk Gottes aufgefasst, dann habe ich mehr Entscheidungsmöglichkeiten, analog zu einem geschenkten Buch. Betrachte ich mein Leben schließlich als mein Eigentum, kann ich frei darüber verfügen, ähnlich einem gekauften oder selbst geschriebenen Buch. Die ethische Frage nach dem Umgang mit dem eigenen Leben hängt also von einer Antwort darauf ab, ob und in welcher Weise mein Leben – neben mir – noch anderen "gehört".

Auf die zweite Frage reagiert der andere Satz Barths, den er am Vorabend seines Todes gegenüber dem Freund Eduard Thurneysen äußert: "Es wird regiert". Die ethische Diskussion von Entscheidungen am Lebensende muss theologisch in den Horizont der glaubenden Gewissheit um die Gegenwart des handelnden Gottes gestellt werden. Die Freiheit Gottes – für die Reformatoren war Freiheit ein Gottesprädikat – übersteigt nicht nur die menschliche Vernunft, sondern ist eminent a-moralisch. Coram deo - vor Gott - stoßen menschliche Moral und Rechtsetzung an ihre Grenzen.

Deshalb rückt Barth den Suizid in den Glaubenshorizont der Anfechtung, aus dem Lied des Wittenberger Theologen Paul Eber zitierend: "Wenn wir in höchsten Nöten sein/Und wissen nicht, wo aus noch ein" (EG 366). Damit präsentiert er sozusagen die christologisch-rechtfertigungstheologische Gegenprobe zu jedem möglichen moralischen Standpunkt: Auch dem "hartgesottensten theologischen Ethiker" sei die Einsicht in die Anfechtung des Sterbewilligen zuzumuten und darum aber auch die Erinnerung: er könnte vielleicht letztlich doch nicht so genau wissen, was sich zwischen Gott und dem Selbsttöter nun eigentlich zugetragen hat. 


Die Zitate im Text stammen aus Karl Barths "Kirchlicher Dogmatik", Band III/4, S.388 und 460 bzw. dem Gespräch mit Eduard Thurneysen aus der Karl Barth-Gesamt­ausgabe, Bd. 28, Zürich 1997, 562. Empfehlenswert zur Unterscheidung Lebensqualität und Heiligkeit des Lebens ist der Aufsatz von Philipp Stoellger, "Sterbenlassen. Für und wider eine Unvermeidlichkeit (Teil 1)", in: PrimaryCare 2007; 7: Nr. 20–21, 337–340 (338).